log in

Besprechungen

„The Wild Boys“. Auf den Spuren der Nouvelle Vague

Filmstill Bildstörung Filmstill

Bertrand Mandicos mehrfach ausgezeichneter The Wild Boys ist ein Werk der Extreme: Grenzüberschreitungen, ungewöhnliche Bildästhetik und eine narrative Pointe.

Wissenschaftliche Rezension

TWB5Der deutsche Kinostart von The Wild Boys am 23. Mai 2019 liegt beinahe zwei Jahre nach der Premiere des Films beim Filmfest Venedig 2017. Der französische Film im Allgemeinen steht für ungewöhnliche Ansätze, frische Ideen und extravagante Werke, was auch eine Nachwirkung der Nouvelle Vague ist. Diese entstand zwischen 1959 und 1963 und brachte viele junge Filmschaffende dazu sich dem Medium Film auf neue Arten anzunähern (Kuhn 2009: 202, Kline 2004). The Wild Boys ist eine Herausforderung, aber ein emotionales und höchst ästhetisches Werk, das bereichern kann.

Nouvelle Vague, New French Extremism und Neue Französische Härte

Bekannte Filmemacher der Generation Nouvelle Vague sind Jean-Luc Godard, Jacques Rozier oder François Truffaut.[1] Dieser Umbruch des Umgangs mit dem Film oder die modernen Ansätze der Nouvelle Vague haben bis heute Einfluss auf die internationale Filmlandschaft. Beispielsweise geht das ästhetische Mittel des Jump-Cuts auf Außer Atem (À bout de souffle) von 1960 zurück, einer Regiearbeit Godards zu einem Drehbuch von Truffaut. Kino wurde zudem sehr politisch – meist stark links orientiert – und zu einem Spiegel des Zeitgeistes. Dies hielt auch nach dem offiziellen Ende der Nouvelle Vague an und wird sehr deutlich an Godards filmischer Herausforderung Weekend (Week End) aus dem Jahr 1967.

TWB4Der französische Film steht auch für Extreme. Um das Jahr 2000 herum ist unter den französischen Filmemachern erneut eine Radikalisierung der Inszenierung erkennbar, eine neue Bewegung, die als „New French Extremism“ bezeichnet wird (vgl. Vincendeau 2009). Hierbei werden Tabus gebrochen, beispielsweise durch ein Inszenieren expliziter pornografischer Darstellungen, Vergewaltigungen, extremer sexueller Neigungen oder auch Kannibalismus oder das Thematisieren von Selbstverletzungen (ebd.). Bekannte Regisseure dieser Bewegung sind beispielsweise Marina de Van, Virginie Despentes und Coralie Trinh Thi sowie Gaspar Noé. Wenngleich die Werke der Genannten international für Aufsehen gesorgt haben, sind die meisten dieser Filmschaffenden ihren französischen beziehungsweise europäischen Wurzeln treu geblieben. New French Extremism ist wiederrum ein Vorläufer der neuen französischen Härte, die auch vor der Inszenierung von Home-Invasion, psychotischen Störungen und Folter nicht zurückschreckt (vgl. Heuer 2013). Diese brachte Regisseure wie Alexandre Aja, Xavier Gens, Alexandre Bustillo und Julien Maury sowie Pascal Laugier hervor. Viele dieser Regisseure haben mittlerweile den Sprung ins US-Kino geschafft, wo diese mehr oder weniger angepasste (Horror)filme inszenieren dürfen. Ein Sinnbild dafür, wie Kapitalismus am Ende über die Kunst und damit verbundene Extreme in der Inszenierung obsiegt.

Filme all dieser Strömungen werden zunächst nur von einem sehr kleinen Publikum wahrgenommen. Die Werke der ursprünglichen Nouvelle Vague genießen heute einen Nimbus, den Kultstatus und internationale Medienpräsenz mit sich bringen. Viele der Filme sind dennoch sperrig und verstoßen noch immer gegen übliche Sehgewohnheit, die beispielsweise durch die Hollywood-Filme in den großen Multiplex-Kinos vermittelt wird. In diesem abseitigen Gefilde befindet sich auch The Wild Boys, der in Deutschland vom Verleih Bildstörung in einige wenige Programmkinos gebracht wird. So wird der Film beispielsweise am Tag der Deutschlandpremiere in der kuratierten Filmreihe des Mondo Grindhouse in Kiel gezeigt. Und dort wird dieser Film nur wenige Menschen erreichen können.

Erwachsenwerden: Lust, Gewalt, Libido und Schmerz

TWB2The Wild Boys erzählt von fünf Jungen, die sich nicht in die Gesellschaft integrieren. Gemeinsam betrinken sie sich, entziehen sich dem Gesetz und üben sich in Blasphemie. Einen ersten grausamen Höhepunkt findet das Treiben der Bande in der Schändung, Vergewaltigung und Ermordung ihrer Englischlehrerin während einer Theaterprobe von Macbeth. Zur Rehabilitierung und Umerziehung werden die fünf Jungen auf eine Reise geschickt. Gemeinsam mit einem Kapitän (Sam Louwyck) stechen die Jungen in See.

Zwischen Rebellion, Schmerz und inneren Konflikten schwelt das Spannungsfeld in der Enge eines kleinen Schiffs auf hoher See. Abgelegen, gefangen, und ohne Hoffnung auf Erlösung finden sich die fünf Jungen dem Kapitän ausgeliefert. Dabei schlägt die Inszenierung immer wieder ins Phantastische, macht sich jedoch auch Schreckensmotive zu eigen. Es bleibt lange offen, ob das Gezeigte oder das Geschilderte ein Fiebertraum, ein Rausch oder doch etwas Wahres ist. Die narrative Auflösung ist hierbei sehr gelungen und wird nach Ende des Abspanns weitergeführt.

TWB3

TWB1Schicksal, das ist eines der leitenden Motive von The Wild Boys. Ein weiteres ist Sexualität. Teils sehr brachial und ohne Skrupel, manchmal hoch ästhetisiert wird in diesem Film Sexualität und Sex an Erwachsenwerden gekoppelt. Dabei sind die Jungen allerdings gnadenlos und nehmen sich, was sie wollen und begehren. Doch der Film weiß diese einseitige Inszenierung gekonnt aufzubrechen und spielt permanent mit sexuellen Spannungen und Lust-Motiven. Man muss bereit sein, sich darauf einzulassen – teils auf sehr expressionistische Darstellungen und Deutbarkeiten – andernfalls kann The Wild Boys zu einer schrecklichen Filmerfahrung gedeihen. Wer mit einer offenen Geisteshaltung an diesen Film herangeht, kann hingegen vieles mitnehmen und einiges an Gesellschaftskritik erkennen. Gar Ansätze von Philosophie und Feminismus sind hier zu entdecken. Doch über den Inhalt, der die eigentliche Überraschung an dem Werk ist, soll nicht mehr verraten werden.

Fazit

The Wild Boys ist ein extremer Film, der deutliche Einflüsse aus der Nouvelle Vague, New French Extremism und neuer französischer Härte besitzt. Allerdings spannt die Inszenierung einen künstlerischen Rahmen, der die Inszenierung ins Phantastische hineinversetzt, ohne dabei die Essenz der Wirklichkeit zu verlieren. The Wild Boys ist ein fordernder Film, der seinem Publikum vieles anbietet, aber auf zweierlei Arten funktioniert: als ästhetischer Kunstrausch und als Werk der Gesellschaftskritik. Die Rezeption und, was davon mitgenommen wird, liegt irgendwo dazwischen und wird mit jeder weiteren Betrachtung des Werkes intensiver. Ein spezieller Film, ein Werk für die große Bühne, aber dennoch stimmig im kleinen Programmkino, in dem die Gesetze der kapitalistisch geprägten Realität des Films außer Kraft gesetzt sind, wo Enthusiasten und Filmgenießer auf ihre Kosten kommen.

Endnoten

[1] Empfehlenswert zur Entstehung der Nouvelle Vague ist Kline 2004. Aus dem Beitrag geht beispielsweise der Einfluss von André Bazin und Henri Langlois hervor (Kline 2004: 159).

Literaturverzeichnis

Heuer, Thomas (2013): Folter als Element der Horror-Dramaturgie. Das Foltermotiv als Evolution des modernen Horrorfilms. Berlin: Unveröffentlicht.
Kline, T. Jefferson (2004): The French New Wave. In: Elizabeth Ezra (Hg.): European cinema. Oxford: Oxford Univ. Press, S. 157–195.
Kuhn, Annette (2009): The Nouvelle Vague. In: Pam Cook (Hg.): The cinema book. 3. ed., repr. London: British Film Inst, S. 202–204.
Vincendeau, Ginette (2009): The New French Extremism. In: Pam Cook (Hg.): The cinema book. 3. ed., repr. London: British Film Inst, S. 205.

Trailer zu The Wild Boys

Infokasten

„The Wild Boys“ (OT: „Les garçons sauvages“)

Regie: Bertrand Mandico

Drehbuch: Bertrand Mandico

Produktion: Ecce Films

Verleih: Bildstörung

Frankreich | 2017

Laufzeit: 110 Minuten (uncut)

Veröffentlichung: Ab dem 23.05.2019 in ausgewählten Kinos.

Bildrechte: Die Bilder dieses Artikels sind Ausschnitte aus dem besprochenen Medieninhalt. Deren Rechteinhaber können Sie dieser Infobox entnehmen.

Letzte Änderung amMittwoch, 22 Mai 2019 20:04
Thomas Heuer

Dr. phil. Medienwissenschaft

Forscher, Fotograf, Filmemacher, Journalist, Gamer

Forschungsfelder: Immersionsmedien, Horror, vergleichende Mediendramaturgien, Game Studies, Medienethik und -philosophie

Abschlüsse: Medienwissenschaft M. A., Multimedia Production B. A., Facharbeiter Kommunikationselektronik

Unter anderem auch das . . .

Because we don't know when we will die, we get to think of life as an inexhaustible well. Yet everything happens only a certain number of times, and a very small number really. How many more times will you remember a certain afternoon of your childhood, some afternoon that is so deeply a part of your being that you can't even conceive of your life without it? Perhaps four or five times more, perhaps not even that. How many more times will you watch the full moon rise? Perhaps twenty. And yet it all seems limitless.

– Paul Bowles, Autor von The Sheltering Sky

Cookie-Einstellungen