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Essays & Aufsätze

Alban Nikolai Herbst und die Poetik des Kybernetischen Realismus

Titelblatt (Ausschnitt) André Vollmer Titelblatt (Ausschnitt)

2016 fertiggestellt und eingereicht, 2021 endlich veröffentlicht: Meine M.A.-Thesis befasst sich eingehend mit Alban Nikolai Herbsts nach-postmoderner Literatur.

1. Inhalt

Alban Nikolai Herbst ist, obwohl im Literaturbetrieb marginalisiert [1], einer der wichtigsten zeitgenössischen Vertreter einer postmodernen oder nach seinem Dafürhalten bereits nach-postmodernen Poetik, der „bereits eine Vielzahl von wichtigen und gewichtigen Büchern vorgelegt“ [2] hat. Das wird augenfällig, wirft man einerseits einen Blick auf den schieren Umfang seines bisherigen Oeuvres, das von Erzähl- und Gedichtbänden über Hörstücke, Nachdichtungen und Dramentexte bis hin zu einer locker aneinander geknüpften Pentalogie von Großromanen reicht, die „bereits allein auf Grund ihres Umfanges etwas Monströses an sich“ [3] haben. Andererseits ist es die komplexe und anspielungsreiche Machart der Herbst’schen Literatur sowie ihre extensive theoretische Darlegung in poetologischen Schriften, die ein solches Urteil rechtfertigen. Mit letzteren theoretischen Texten zur Arbeit des Autors hat sich die Forschung bisher nur am Rande beschäftigt. Sie fokussiert ihre Analyse auf die komplexe und widersprüchliche Erzählstruktur und Figurengestaltung der Primärtexte, insbesondere der besagten Großromane Die Verwirrung des Gemüts [4], Wolpertinger oder Das Blau [5] und der Anderwelt-Trilogie  [6], und zieht hierzu die poetologischen Äußerungen des Autors zu Rate. In der vorliegenden Arbeit soll diese Perspektive umgedreht werden.

2. Zielsetzung und Methodik

Anhand von ausgewählten Schriften des Autors werden einige der wirkungstheoretischen Grundannahmen herausgearbeitet, die Herbst seinen Texten zuschreibt. Sie bilden einen Teil der Grundlagen des Kybernetischen Realismus, den Herbst in seinen Heidelberger Vorlesungen ausformuliert hat. [7] Um dieses umfangreiche Vorhaben einzugrenzen, legt die vorliegende Arbeit den Fokus auf die von Herbst postulierte Leser- und Autorrolle und der damit zusammenhängenden Vorstellung des Phantastischen Raumes als auch auf die Begriffskomplexe Ambivalenz, Perversion, Intensität, Katharsis und Transzendenz. Derart erarbeitet diese Abhandlung ein begrifflich zusammenhängendes Rezeptionsmodell, in dem Leser und Autor bestimmte Tätigkeiten zugewiesen sind, wobei es der Autor ist, der dem Text im Schreibprozess eine Form gibt, die dieses Modell erst konstituiert. Es sind die von ihm verwendeten ästhetischen Verfahren, die diese Form bestimmen und mit ihr die Möglichkeit der noch zu beschreibenden Wirkungen auf den Leser. Nach der Darlegung der poetologischen Thesen wird die Erzählung Isabella Maria Vergana [8], der Herbst in Bezug auf seine Poetik Modellcharakter zuweist, im Licht der Poetik gelesen und untersucht.

3. Ergebnis

Diese M.A.-Thesis hat als Abschlussarbeit nicht den Anspruch, das Themenfeld erschöpfend darzulegen. Das vorausgeschickt, können als Ergebnis dieser Arbeit die wesentlichen Grundannahmen der Poetik des Kybernetischen Realismus zusammenfassend dargestellt werden. Oben war die Rede von einem Rezeptionsmodell, in dem Leser und Autor bestimmte Rollen einnehmen und der Literatur eine generelle Wirkung zugewiesen wird, die sich auf beide Akteure entfaltet. Wie die Arbeit veranschaulicht, etabliert der Autor dieses Modell durch die Art und Weise, wie er seine Literatur verfasst. Er ist derjenige, der das Unbewusste und Verdrängte ausgräbt, einerseits das individuelle seiner eigenen Person, andererseits durch diesen Prozess hindurch das kollektive der Gesellschaft, deren Teil er ist (Ausgraben, Kap. II.1.2). Da der Autor wie jeder Mensch über sein Unbewusstes nicht verfügen kann, unterläuft er sowohl die psychische Verdrängung als auch eine redigierende Selbstzensur, indem er während des Schreibens ihn treibende Stimuli einsetzt, z. B. Rauschmittel oder, im Falle Herbsts, die Form. Einher mit dem Ausgraben geht deshalb die künstlerische Formung des Ausgegrabenen (Kunstwillen, Kap. II.1.3), die außerdem von Bedeutung ist, da sie das so gewonnene Material der Literatur auf den Leser übertragbar macht. Damit die in Variationen wiederkehrenden archetypischen, überpersönlichen Muster und Prinzipien, die der Autor erarbeitet, für den Leser nachvollziehbar sind, sollen diese in einer allegorischen Gestaltung u. a. unter Rückgriff auf mythologische Topoi dargebracht werden (Allegorisierung, Kap. II.1.2). Hierdurch wirken sie, so die poetologische Annahme, direkt in das Unbewusste des Lesers, der sie daraufhin erahnen und nachfühlen kann: Erkennt der Leser in den Prinzipien und Mustern das Eigene, Individuelle, kann er dies als Überwältigung erleben und nimmt infolge dieser eine Erfahrung aus der Lektüre mit hinüber in sein Weltbild (Transzendenz, Kap. II.4). Der Leser begibt sich hierzu in eine Rezeptionshaltung, die sich idealerweise auf das Erzählte einlassen will (Rezeptionswillen, Kap. II.1.3) oder sich zur Einlassung verführen lässt, was u. a. durch die Nähe der Schilderung zum Geschilderten, durch das Stilmittel des Pathos sowie durch das Widersprüchliche des Erzählraums erreicht wird, das einen rationalen, distanzierten Zugang zu untergraben versucht (das Ungefähre, Kap. II.1.3; Phantastischer Raum, Kap. II.1). Oftmals führt allerdings gerade diese Konzeption zu einer ablehnenden Haltung des Lesers, was laut Herbst die Verdrängung sehr genau bezeichnet. Über die Ähnlichkeit der dargestellten Prinzipien und Muster zu dem Eigenen, Individuellen des Lesers wird diesem, so er sich einlässt, die Projektion seines Unbewussten in die Erzählung möglich und die Verdrängung für den Moment der Lektüre aufgehoben (Projektion, Kap. II.1.1).

Sind diese Rezeptionsbedingungen gegeben, kann die Literatur ihre reinigende Wirkung auf die Psyche entfalten (Katharsis, Kap. II.2, II.3). Hiermit sind zweierlei Effekte gemeint, die miteinander verwoben sind. Zum einen konfrontiert sich der Leser mit dem dargestellten Schrecken und erlebt sie durch die Projektion als in sich hineinverlegt, was laut Herbst nur möglich ist, weil das Schreckliche in dem Leser als Potenzial bereits angelegt ist. Von der Möglichkeit, dieses Potenzial in die Tat umzusetzen, wird der Leser durch die Lektüre gereinigt. Zugleich wird der Schrecken für ihn erträglich, da dieser vermittels der formalen Gestaltung in Lust umgekehrt wird (Perversion, Kap. II.2). Damit dies gelingen kann, ist die Einlassung wichtig, da der Leser die pervertierende Bewegung des Textes ebenfalls vollziehen muss. Andernfalls kann es zur besagten Ablehnung kommen. Zum anderen ist die Katharsis auf die Befriedigung eines Intensitätsbedürfnisses bezogen, das sich Herbst zufolge, wird es nicht befriedigt, an anderer Stelle in negativer Form verwirklicht, z. B. als sadomasochistisches Sozialverhalten. Deshalb will der Autor menschliche Triebe, z. B. die Sexuallust, in überbordender Intensität für den Leser erlebbar machen (Intensität, Kap. II.3). Die intensive Wirkung soll durch die Darstellung von Grenzsituationen erlangt werden, in denen gesellschaftliche Konventionen, wie z. B. die Moral, außer Kraft gesetzt werden und das handelnde Subjekt daher auf sich selbst gestellt ist (Katastrophe, Kap. II.3). Der Protagonist der intensiven Literatur gibt sich seiner Lust stellvertretend für den Leser hin und steuert derart auf den eigenen Untergang oder den anderer Figuren zu. Hieraus entsteht u. a. die Tragik dieser Konzeption. So kann sich der Leser der entgrenzenden Intensität ebenfalls hingeben, ohne allerdings sich selbst oder andere zu gefährden. Die Intensität steht zudem mit der Transzendenz insofern in Verbindung, als letztere durch das ekstatische Erleben ersterer mitgetragen wird. In der Ekstase werden die überpersönlichen Muster und Prinzipien deutlich, weil sie in dem Leser zu wirken beginnen. Beide kathartische Wirkungen sind miteinander verflochten, da der Schrecken und die Lust in einem ambivalenten Zusammenhang verknüpft sind und im Moment der Katastrophe auseinander hervorgehen.

Die Untersuchung der Erzählung Isabella Maria Vergana veranschaulicht, wie die grundlegenden Wirkmotive des Kybernetischen Realismus in einer konkreten literarischen Gestaltung aussehen können. Zudem wird die besondere Eigenart der vorliegenden Poetik, einander widersprechende Erzählmodi innerhalb ein und desselben Textes zu verwenden, sehr deutlich herausgearbeitet. Durch die gleichzeitige Anwendung realistischer, ‚dokumentaristischer‘ (vgl. Kap. II.5.6), experimenteller und fantastischer Verfahren, die jeweils ganz eigene Lesarten ermöglichen, wird ein ambivalenter Erzählraum geschaffen (das Ungefähre, Kap. II.1.3), der in dieser Weise dem konstruktivistischen Wirklichkeitsverständnis des Autors entspricht und diesem zufolge die zeitgenössische Wahrnehmung der Welt widerspiegelt.

André Vollmer: Der Phantastische Erzählraum. Alban Nikolai Herbsts Poetik des Kybernetischen Realismus. Kiel 2016. [Herunterladen als PDF]

 

Endnoten

[1] Diese Einschätzung teilt auch Innokentij Kreknin, vgl. Innokentij Kreknin: Kybernetischer Realismus und Autofiktion. Ein Ordnungsversuch digitaler Phänomene am Beispiel von Alban Nikolai Herbst. In: Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Hg. von Martina Wagner-Egelhaaf. Bielefeld 2013, S. 279-314, S. 279.

[2] Christoph Jürgensen: Ich sind auch andere. Zur Pluralisierung des Selbst in der Erzählprosa von Alban Nikolai Herbst. In: Moderne, Postmoderne – und was noch? Hg. von Ivar Sagmo. Oslo 2004, S. 145-158, S. 145.

[3] Ursula Reber: Ganz woanders zugleich: Simultaneitäten in Alban Nikolai Herbsts Cybercities. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik. Hg. von Magdolna Orosz u. Andreas Herzog. Budapest/Bonn 2003, S. 131-151, S. 131.

[4] Alban Nikolai Herbst: Die Verwirrung des Gemüts. München 1983.

[5] Alban Nikolai Herbst: Wolpertinger oder Das Blau. Frankfurt am Main 1993.

[6] Die Anderswelt-Trilogie umfasst die folgenden Romane: Alban Nikolai Herbst: Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman. Reinbek 1998, Alban Nikolai Herbst: Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman. Berlin 2001 sowie Alban Nikolai Herbst: Argo. Anderswelt. Epischer Roman. Berlin 2013.

[7] Alban Nikolai Herbst: Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen. Heidelberg 2008.

[8] Alban Nikolai Herbst: Isabella Maria Vergana. In: Ders.: Die Niedertracht der Musik. 13 Erzählungen. Köln 2005, S. 163-189.

Letzte Änderung amSamstag, 16 Oktober 2021 08:05
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

Unter anderem auch das . . .

„[S]elbst die schönste Gegend hat Gespenster, die durch unser Herz schreiten, sie kann so seltsame Ahndungen, so verwirrte Schatten durch unsere Phantasie jagen, daß wir ihr entfliehen, und uns in das Getümmel der Welt hinein retten möchten.“

Ludwig Tieck in Phantasus. Eine Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen

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