Marktkritik und Rolle der Forschung in „Little Joe“
- geschrieben von André Vollmer
- Publiziert in Metablog
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Gedankenskizzen zur Gesellschaftskritik in dem surrealen Arthouse-Thriller Little Joe und was diese mit inszenatorischer Unentschiedenheit zu tun hat.
Medienlogbuch
Jessica Hausners Little Joe – Glück ist ein Geschäft ist ein hochästhetischer Film zwischen Phantastik, Horror und Science-Fiction, in dem eine Pflanze namens Little Joe gezüchtet wird, die den Menschen durch ihren Duft glücklich machen soll. Die Inszenierung spielt mit der Mehrdeutigkeit des Filmgeschehens und hält sie bis zum Schluss aufrecht, wie ich in meiner Rezension schildere. Ebendiese Aufrechterhaltung der Mehrdeutigkeit – oder inszenatorische Unentschiedenheit – erlaubt der Erzählung in Little Joe sowohl die Spannung einer Bedrohung auszukosten, die durch eine mysteriöse Pflanze und ihre womöglich gefährlichen Pollen zumindest potenziell entsteht, als auch realitätsnahe Themen aufzugreifen, die mit dieser Bedrohung verbunden sind und die man als Gesellschaftskritik lesen kann.
So thematisiert Little Joe unter anderem einen Schwachpunkt nicht reglementierter Marktwirtschaft, der im Zusammenhang des Filmgeschehens gravierend ist, nämlich die Profitorientierung von Entscheidungsträgern, die auf Untergebene, welche auf die Risiken neuer Produkte hinweisen, mit sozialem Druck reagieren. Ebendies widerfährt der Projektleiterin Alice (Emily Beecham), die für die Züchtung von Little Joe bis hin zur Marktreife verantwortlich ist. Letztlich abhängig vom Markt müssen die Entscheider das neue Produkt zwingend lancieren, um nicht auf den Entwicklungskosten sitzen zu bleiben, also entgegen etwaigen Bedenken ihrer Kollegen*innen und zum Schaden der Verbraucher*innen. Aufgrund der Beschaffenheit des Schadens kann dieser zudem nicht durch den Markt selbst reguliert werden, etwa indem er erkannt wird und das Produkt, das ihn verursacht, durch Einbruch der Nachfrage abgestraft und letztlich vom Markt getilgt wird. Das ist deshalb nicht möglich, weil der Schaden den Konsument*innen nicht auffällt, ähnlich wie bei den Spätfolgen eines unzureichend geprüften Medikaments. Ein solches schädliches Verhalten können vielleicht Regelungen und Verfahren zur Einführung von Produkten stoppen, an die sich Marktakteure unter Strafandrohung halten müssen. Noch besser wäre es, wenn Forscher wie die Figur Alice sich einem Berufsethos verpflichtet fühlten und entsprechend handeln könnten, ein Ethos, das eine Veröffentlichung erst dann zuließe, wenn alle Risiken ausgeschlossen sind. Für ein solches Ethos müssten allerdings erst die Voraussetzungen geschaffen werden; denn der Markt allein kann dies nicht regeln, im Gegenteil kann er dazu verführen, dass Marktteilnehmer ihrem Berufsethos zuwiderhandeln und sich schädlich gegenüber anderen verhalten.
Ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, ist die Funktion, die der wissenschaftlichen Forschung in Little Joe in diesem Zusammenhang zugedacht wird und die in meiner Wahrnehmung dem aktuellen Zeitgeist entspricht. Erstens avanciert Forschung mit ihren Heilsversprechen zum Problemlöser Nr. 1. Das Erleben von Glück und Glücksgefühlen soll in Little Joe nicht mehr charakterlich erarbeitet, sondern – so das Versprechen – chemisch synthetisiert werden. Folglich müssen die Konsument*innen nicht länger an sich arbeiten, sondern lediglich ein Produkt erwerben, das sie von selbst verbessert. Zweitens ist Forschung in diesem Film zu einem reinen Instrument degradiert worden, mit dem keine höheren Ideale mehr verbunden sind, etwa denen des Humanismus und der Aufklärung. Stattdessen wird Forschung von Marktakteuren zur Problemlösung eingesetzt und die so entwickelten Problemlösungen verkauft, was nicht automatisch schlecht sein muss, im Gegenteil – allerdings im Falle der Zuchtpflanze Little Joe, die hier symbolisch für diese Entwicklungen steht, ist es von einem zweifelhaften Nutzen für die Menschheit.
Diese beiden gesellschaftskritischen Themen – und sicherlich noch weitere – kann der Film Little Joe ansprechen und zugleich Spannung durch eine Phantastische Bedrohung aufbauen, weil die Inszenierung wie gesagt offen lässt, ob jene Bedrohung tatsächlich existent oder nur eine Vorstellung der handlungsführenden Figuren ist. Das hat weitreichende Konsequenzen. Beispielsweise wäre die angesprochene Marktkritik nicht möglich, wenn die Pollen der gezüchteten Pflanze, wie der Film nur andeutet, die Forscher tatsächlich gleichschaltet und ihr Verhalten dahingehend beeinflusst, dass sie sich zugunsten der Pflanze einsetzen. Denn dann wäre das Verhalten der Forscher das Resultat einer Manipulation und nicht selbstbestimmt (sofern man von Selbstbestimmtheit sprechen möchte, wenn ebenjene Forscher als auf Erfolg eingeschworene Marktakteure durch die Bedingungen des Marktes zu einem gewissen Verhalten, wenn nicht genötigt, dann zumindest verlockt werden).
Durch diese inszenatorische Unentschiedenheit können sowohl wirklichkeitsnahe als auch Phantastische Probleme angesprochen und sogar miteinander verquickt werden – Phantastisch nenne ich solche Probleme, die durch die Spekulation aufgeworfen werden, eine ästhetisierte Darstellung erfahren und die, obwohl sie ins Übernatürliche, Unwahrscheinliche oder Monströse übersteigert sein können, dennoch von ihrer Grundidee her in der Realität fußen. Genau solch ein Problem wirft die fiktive Pflanzenzüchtung namens Little Joe auf. Denn wenn es stimmt, dass diese Blume innerhalb der Fiktion menschliches Verhalten durch ihre Pollen verändern kann, dann nutzt die Pflanze eine Überlebensstrategie, die es in der realen Natur bereits gibt, hier aber ins für den Menschen Bedrohliche gesteigert wird. Denn es existieren tatsächlich parasitäre Lebewesen, die zu ihren Gunsten das Verhalten eines Wirts beeinflussen.
So bringt der Film Little Joe das Phantastische und das Realistische zueinander und lässt beide Welten nebeneinander gelten, wodurch die erzählte Geschichte reichhaltiger und ihre Ästhetik anspruchsvoller wird, als beides ohne die Verknüpfung dieser gegensätzlichen Welten wäre. Ebendiese Verbindung, die früher und auch heute noch vielfach durch Genregrenzen verhindert wird, scheint mir in vielen zeitgenössischen Werken der Phantastik, des Horrors und der Science-Fiction aufzuscheinen. Zumindest wäre sie aus meiner Sicht ein wichtiges Element der Gestaltung, um die angeblich per se wirklichkeitsfernen und vielfach als eskapistisch geltenden Genres diskursfähig und über reine Unterhaltung hinaus relevant zu machen.
Infokasten
„Little Joe – Glück ist ein Geschäft“ (OT: Little Joe)
Regie: Jessica Hausner
Drehbuch: Géraldine Bajard, Jessica Hausner
Laufzeit: 105 Minuten
Produzent: Coop99 Filmproduktion, The Bureau, Essential Filmproduktion, Arte Deutschland TV u. a.
Verleih: X Verleih AG
Großbritannien, Österreich, Deutschland | 2020
Veröffentlichung: Kinostart am 09.Januar 2020. Ab dem 11. Juni 2020 im Handel erhältlich.
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André Vollmer
Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.