Resident Evil 2 (1998): Das Monster, das durch die Wand kam
- geschrieben von André Vollmer
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Bei einem Videogame so heftig erschrecken, dass man pausieren muss? Das ist mir 1998 mit Resident Evil 2 passiert. Warum das so erschreckend war, diskutiere ich hier.
Erlebnisbericht und Gedankenskizze (Medienlogbuch)
In den Videogames und Filmen von Resident Evil gibt es eine Vielzahl an Monstern, typischerweise Zombies, aber auch Riesenspinnen, Froschungeheuer oder Mutanten. Einen besonderen Wiederkennungswert hat mittlerweile ein Monstrum, das „Tyrant“ heißt – oder in Resident Evil 2, um das es hier gehen wird: „Mr. X“. Im ersten Videogame zu dieser Marke (Resident Evil, 1996) ist das gentechnisch erschaffene Ungetüm der allerletzte Endgegner und damit die finale Bedrohung, die Spieler und Spielfigur überwinden müssen, um schlussendlich aus dem Bedrohungsszenario zu entkommen. In Resident Evil 2, sowohl im Original (1998) als auch im Remake (2019), jagt der Tyrant (beziehungsweise Mr. X) den Spieler über weite Strecken durch das Game. Erst ganz zuletzt wird der hünenhafte Humanoide im Original erneut zur finalen Herausforderung, zumindest in zwei von vier unterschiedlichen Spieldurchläufen, die möglich sind. Zwischendurch bleibt nur die Flucht oder ein kurzer, aber intensiver Schlagabtausch, der Mr. X vorübergehend ausschaltet. Unerheblich, ob Kampf oder Flucht, das als biologische Waffe konzipierte Geschöpf wird wiederkehren, und zwar urplötzlich während man die Flure und Räume einer Polizeistation erforscht. Dergestalt wird Mr. X zu einer dauerhaften Bedrohung, die immer wieder zu Spannungsspitzen führt und dessen Schrecken auch dann nachwirkt, wenn er gerade nicht auftritt. Denn er könnte ja jederzeit wiederkehren. Die Ungewissheit des Spielers, wann und wo dies geschehen wird, hält die Spannung aufrecht.
Das Monster, das durch die Wand kam
Eine Begegnung mit Mr. X werde ich nie vergessen, weil sie mich derart heftig erschreckt hat, dass ich das Spiel speichern und pausieren musste. Ich konnte die Spannung, die der Begegnung folgte, nicht mehr aushalten. 1998 war ich noch ein junger Steppke, der Resident Evil 2, gemessen an damaligen Altersfreigaben, gar nicht hätte spielen dürfen, es aber doch konnte, weil sein großer Bruder das Game mit nach Hause gebracht hatte. Und so kam es, dass ich eines Abends an der Seite der Spielfigur Leon S. Kennedy den Presseraum des Raccoon City Police Departments betrat. Nachdem Leon und ich erledigt hatten, was zu erledigen war (nämlich ein Rätsel), brach unerwartet Mr. X durch die Wand. Wir nehmen die Füße in die Hand und flüchten in die Flure, die an den Presseraum anschließen. Passieren das Loch, das der Tyrant in die Wand gerissen hat. Dann, kurz vor dem rettenden Ausgang, sprengt das Monster wieder durch die Wand. Diesmal schneidet es uns den Weg ab und wir müssen uns auf einen Kampf einlassen. Den wir, Schrottflinte sei Dank, überstehen.
Aber danach, als die Waffe wieder im Halfter steckt, speicherte ich das Spiel und ließ Leon für den Rest des Abends allein in der Polizeistation zurück. Die Begegnung mit Mr. X war so plötzlich gewesen, dass sie mich nachhaltig erschreckt hatte. Zumal der Tyrant zweimal hintereinander durch die Wand gebrochen war, was ich nicht hatte kommen sehen. Von da an glaubte ich, der grauhäutige Hüne könnte jederzeit und überall auftauchen. Das war zu viel für den Moment. Im Nachhinein aber bleibt es eine äußerst intensive Erfahrung, die ich nicht missen möchte und von der ich anderen Gamern immer wieder gern erzähle. Es ist bezeichnend für unsere Zeit, dass diese Erfahrung nicht durch eine ‚reale‘, sondern gänzlich fiktive Begegnung hergestellt wurde, aber dennoch in der erlebten Intensität einer ‚realen‘ Begegnung vergleichbar bleibt und daher genauso detailliert erinnert wird. Zumindest geht es mir so.
Plötzlichkeit und Interaktivität
Aber wie konnte eine derartige Intensität überhaupt entstehen? Man könnte antworten: durch den Schreckmoment, den das plötzliche Erscheinen von Mr. X ausgelöst hat, ähnlich wie in einem Horrorfilm, der plötzlich das Monster zeigt, welches der Zuschauer schon so lange erwartet hat („Jumpscare“, siehe Wikipedia). In Resident Evil 2 tritt ein solcher Schreckmoment zudem mit einer Forderung an den Spieler auf: Er muss agieren, sonst meistert er die plötzlich aufgetretene Herausforderung nicht. Da Resident Evil 2 als Videogame ein interaktives Medium ist und da also von dem Spieler abhängt, was die Spielfigur tut, etwa ob sie einem Monstrum wie Mr. X entkommt, überträgt sich die lebensbedrohliche Lage von Leon S. Kennedy auf den Spieler, allerdings nicht in derselben Qualität. Geht es für die Spielfigur ums Überleben, stellt dieselbe Situation für den Spieler lediglich eine spielerische Herausforderung dar. Dennoch kann sich die vom Spieler erlebte Intensität durch das interaktive Moment steigern. Nicht nur erschrickt sich der Spieler aufgrund der Plötzlichkeit des Geschehens, auch muss er trotz des so entstandenen Schockmoments handeln.
Intensität durch einen geplanten Regelverstoß
Aber das ist noch nicht alles. Denn ich bin der Ansicht, dass die erlebte Intensität außerdem durch einen Regelbruch verstärkt wird, der mit der konkreten Inszenierung der Begegnung mit Mr. X im Presseraum einhergeht. Um zu erklären, was ich meine, muss ich vorwegschicken, dass die Spielumgebungen in Resident Evil 2 nicht animiert sind, sondern vorgerendert und daher unbeweglich. Durch diese starren Kulissen hindurch bewegen sich die in Echtzeit animierten Figuren, sowohl die des Spielers als auch die gegnerischen. Teils ist auch Ambiente animiert, zum Beispiel ein loderndes (also bewegtes) Feuer. Insgesamt erscheint die Spielwelt wie aus einem anderen Stoff als die Figuren gemacht. Dieser Unterschied ist auch für das Auge klar erkennbar, wurde damals aber von den Rezipienten akzeptiert und idealerweise nicht als störend empfunden. Auf die Frage, weshalb die beschriebene Spielszene so intensiv ist, kann einfachheitshalber zunächst eine Antwort gegeben werden, mit der man sich dem Phänomen annähert, aber die im Anschluss sogleich nachgebessert werden muss:
Dass sich die als statisch empfundene Spielumgebung plötzlich doch verändert, indem ein Monster durch eine Wand bricht, ist ungewöhnlich, wenn nicht sogar unerwartbar im Anbetracht dessen, was der Spieler bis zu dieser speziellen Begegnung mit Mr. X in der Spielwelt von Resident Evil 2 erlebt hat. Das Videogame lehrt den Spieler im Spielverlauf, was zu erwarten ist und was nicht. So lernt er, dass nur die Monster eine Bedrohung darstellen und dass diese Geschöpfe sich meist schon in der Spielumgebung befinden, wenn er sie mit seiner Spielfigur betritt. Meist tauchen die Monster also weder plötzlich auf noch verändern sie dabei die Spielumgebung in einer nicht zu erwarteten Weise. Man könnte also vorläufig sagen, dass Resident Evil 2 zunächst inszenatorische Regeln etabliert und sie dann in der Begegnung mit Mr. X im Presseraum bricht. Diese Regeln besagen: Ich kann der Spielumgebung vertrauen, denn sie ist die unveränderliche Kulisse eines Schreckens, der woanders und nicht in ebendieser Kulisse stattfindet. Aus dem Bruch dieser Regeln entsteht anschließend das Unerwartete und Plötzliche, insgesamt die Vehemenz, mit der die Bedrohung und mit ihr der Schrecken eintritt.
Ganz richtig ist diese Beschreibung, wie gesagt, noch nicht. Denn es gibt weitere Schockmomente, die ähnlich funktionieren wie der im Presseraum und die ebenfalls mit einer Veränderung der Spielumgebung einhergehen. Einmal zum Beispiel schießen Raben durch die Fenster in einen Gang hinein und attackieren die Spielfigur. Ein anderes Mal bricht ein klauenbewehrtes Monster durch einen Einwegspiegel im Verhörraum der Polizeistation. Beide Male ist das Überraschungsmoment aber deutlich kleiner als im Presseraum, zumindest für denjenigen, der schon den ersten Teil der Spielereihe gespielt hat. Dort durchstoßen ebenfalls Raben die Fenster eines Ganges. Wer das zweimal erlebt hat und über ein wenig dramaturgisches Feingefühl verfügt, kann durchaus erwarten, dass nun auch ein Monster durch den Einwegspiegel bricht – allerdings nicht durch eine Wand. Dafür erscheint die Spielumgebung von Resident Evil 2, eben weil sie vorgerendert ist, zu statisch. Aber das ist (oder war zumindest meinerseits) nichts weiter als ein Trugschluss, der auch durch eine Vielzahl von Erfahrungen mit anderen Games bedingt ist, in denen sich vorgerenderte Spielumgebungen nicht oder nur selten in großem Umfang verändern (es sei denn, man verlässt sie und betritt eine neue, wie in vielen japanischen Rollenspielen, etwa Final Fantasy VII). Richtiger als die bisherige Beschreibung wäre also eine, der zufolge Resident Evil 2 erstens an wenigen, ausgewählten Stellen Schockmomente platziert, die sehr wohl die sonst statische Spielumgebung verändern. Zweitens würde diese Beschreibung enthalten, dass ebenjene Schockmomente bis ins Unmöglich-zu-Erwartende gesteigert werden, indem die Regeln mit jedem Schockmoment neudefiniert werden. Der Spieler lernt als erstes, dass Fenster gefährlich sind, dann dass Spiegel gefährlich sind und so weiter, bis schließlich auch Mauerwerk vor Gefahr nicht mehr schützt. Die Kulisse wird durch die Regelverstöße bzw. Regelneusetzungen zunehmend durchlöchert, bis sie selbst zum Träger der Gefahr wird.
Im Rückblick wäre das Durchbrechen des Tyrants durch eine Mauer insofern im Bereich des Erwartbaren gewesen, als es, technisch betrachtet, für die Engine des Videospiels keinen Unterschied macht, ob Trümmerteile einer Mauer oder die Splitter eines zerspringenden Fensterglases animiert werden. Zumindest, wenn beides ähnlich klotzig aussieht. Und das ist im Original von Resident Evil 2 der Fall. Diese Erwartbarkeit ergibt sich aber nur für den technisch versierten Spieler.
Fazit: Schock, Interaktivität und Regelbruch
Ich denke, dass sich die Qualität des Schreckens, der sich in der beschriebenen Spielszene entfaltet, zweifelsohne aus dem inszenierten Schockmoment und der Interaktivität des Mediums ergibt, zusätzlich aber durch die besagten Regelbrüche intensiviert wird. Gerade dass der Schrecken der Begegnung mit Mr. X im Presseraum nicht zu erwarten war beziehungsweise nicht erwartet werden konnte, bestimmt dessen Plötzlichkeit und Vehemenz. Daher stellt sich anschließend das Gefühl ein, der Tyrant könne mit einem Mal überall auftauchen. Die inszenatorischen Regeln wurden durch das Handeln des Monsters im Presseraum neu definiert.
Vielleicht – ich schreibe bewusst: vielleicht – kann ein Kunstwerk immer dann eine besondere Wirkung entfalten, wenn es die eigens gesetzten Regeln bricht und den Rezipienten wenigstens für einem Moment aufs offene Meer hinausführt, wo es keine Erwartungshaltungen mehr gibt, stattdessen unvoreingenommenes und unmittelbares Erleben.
Unnötig zu sagen, aber dennoch: Natürlich kann ich nicht von meinem Erleben auf das anderer Menschen schließen. Es ist also möglich, dass viele diese Szene, in der Mr. X durch die Wand bricht, gar nicht so intensiv erlebt haben wie ich damals. Ich spekuliere lediglich auf der Grundlage der gemachten subjektiven Erfahrungen.
Infobox
„Resident Evil 2“ (OT: Biohazard 2, jap. バイオハザード2)
Entwickler: Capcom
Publisher: Capcom, Virgin Interactive
Plattformen: Windows PC, Nintendo 64, GameCube, Dreamcast, PlayStation, Playstation 3
Japan 1998
Erstveröffentlichung in Europa: 8. März 1998 (als Datenträger)
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André Vollmer
Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.