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Videospiel-Analyse: Wie „Gone Home“ mit der Erwartung spielt

Spielszene (In-Game-Grafik) The Fullbright Company Spielszene (In-Game-Grafik)

Dieser Rückblick auf Gone Home betrachtet, welche Rolle das Phantastische und das Tragische in dem ungewöhnlichen Erzählkonzept dieses Spiels einnehmen.

Interpretative Rezension

Diese Besprechung geht auf Details von Gone Home ein, deren Kenntnis das unvoreingenommene Spielerlebnis trüben kann.

Sommer 1995. Nach einem Auslandsjahr in Europa kehrt die Teenagerin Kaitlin Greenbriar zu ihrem Elternhaus in den USA zurück. Doch niemand ist daheim. Draußen blitzt und donnert ein Unwetter, in dem gespenstisch leeren Haus flackern die Lampen. Ein Brief an der Haustür und eine aufgeregte Sprachnachricht auf dem Anrufbeantworter erwecken den Eindruck, dass etwas Schlimmes vorgefallen ist.

Gone Home 2Aus der Ich-Perspektive der Jugendlichen Kaitlin kann der Spieler in Gone Home nun einen Erzählraum erforschen, in dem ihm weder eine fertige Geschichte präsentiert wird noch andere Figuren auftreten. Dennoch gibt es viel zu entdecken, denn der begehbare Raum selbst und die darin auffindbaren Dinge geben Hinweise darauf, was mit den Menschen geschehen ist, die hier normalerweise leben. Der Spieler durchwandert das Haus, öffnet Kleider- und Küchenschränke, Schubladen und Kisten, schaut in Flure, Zimmer und Keller, inspiziert jede Ecke und schnüffelt neugierig durch das Privatleben der Abwesenden. Derart findet er Dokumente, Briefe, Fotos, Videos oder Kassetten, zahlreiche Dinge, die Aufschluss über das Leben von Kaitlins Familie sowie deren Verbleib geben. Das Interessante an diesem Erzählkonzept ist, dass der Spieler während seiner Suche Hypothesen darüber aufstellt, was vorgefallen ist, und diese Hypothesen je nachdem, welche Informationen er findet, immer wieder revidiert. Gewissermaßen bewegt er sich ahnend-erwartungsvoll durch die Spielwelt, lernt unterwegs die nie in Erscheinung tretenden Figuren kennen und erzählt sich die ganze Zeit über selbst eine Geschichte. Im Idealfall sind die Spieler durch den spannungsvollen Auftakt von Gone Home angespornt, den Erzählraum zu erforschen und seine Deutungsangebote anzunehmen. Sie werden dann zu Abenteurern der Interpretation.

Dass erzählerisch aufgeladene Dinge in einer Spielwelt eine Geschichte vermitteln, die der Spieler sich anhand dieser selbst und daher auf individuelle Weise erzählt, nennt die Videospielforschung emergente Narration. Sie ist ein Teil fast jeder Videospielinszenierung. In Gone Home ist diese Erzählform sehr präsent, da es hier keine übergeordnete Erzählinstanz gibt, die sich durch narrative Einschübe bemerkbar macht, etwa durch Videosequenzen. Es gibt lediglich den Erzählraum, in dem sich der Spieler frei bewegen kann. Allerdings die Tagebuch-Einträge, Briefe und Postkarten, die zu finden sind, erzählen durchaus fertige Geschichten.

Die phantastischen Erzählräume

Gone Home 3In der jüngsten Vergangenheit hat es einige Spiele gegeben, in denen der Erzählraum selbst zum Protagonisten wird. Er ist nicht länger nur Kulisse eines interaktiven Geschehens, sondern tritt in dem Moment selbst ins Rampenlicht, da er sich unvorhergesehen verändert und den Spieler irritiert. Eine Wand verschwindet und ein Gang tut sich auf, der an dieser Stelle logisch nicht sein kann, da dort eigentlich ein anderes, schon durchquertes Zimmer liegen müsste. Oder eine Eingangstür ist plötzlich verschwunden und der Spieler wird in dem Raum, den er gerade betreten hat, eingesperrt. Liegt eine derartige Strukturierung des Erzählraums vor, die nicht nach Gesetzen abläuft, die der Spieler aus dem Alltag kennt, ließe sich von „phantastischen Erzählräumen“ sprechen. Denn solche unzuverlässigen Erzählräume greifen die grundlegenden Erzählprinzipien eines Videospiels an und können daher Unsicherheit bei den Spielern erzeugen. Sie wissen nicht länger, was sie von dem Erzählraum erwarten können, und plötzlich scheint nichts mehr unmöglich. Diese Auffassung des Phantastischen beruft sich auf die Vorstellung, dass es, das Phantastische, als das Andersartige und Abweichende auftritt. Es wirft Sand in das Getriebe des Herkömmlichen und Etablierten, um es zu stören und aus ebendieser Störung seine Effekte zu beziehen. Beispiele hierfür sind Layers of Fear, Among the Sleep oder The Stanley Parable. In all diesen Spielen wird der Raum aus einer teilnehmenden Ich-Perspektive eingesehen und erlebt, was die angedeutete Wirkung womöglich sogar intensiviert.

Eine weitere Form von Videospiel-Erzählräumen, die man ebenfalls phantastisch nennen könnte, rüttelt nicht an dem eigenen Erzählfundament. Sie schafft Räume, die sich nicht unerwartet verändern, aber mit Wesen und Dingen angefüllt sind, die es in der Realität nicht gibt. Diese Erzählräume sind gegenüber der ersten Spielart deutlich in der Überzahl, die Beispiele zahllos, darunter etwa Resident Evil, Elder Scrolls Online oder Devil May Cry. Das Andersartige des Phantastischen greift hier nicht auf die Raumstruktur über, sondern beschränkt sich auf die visuelle Gestaltung des Raumes sowie seine Inhalte. In ihrem Anders sein sind diese Inhalte oft derart konventionalisiert, dass sie kein Befremden mehr auslösen und damit in der Wahrnehmung des Spielers an das Realistische heranrücken. Beispiele hierfür sind nicht-reale Wesen wie Zombies, Elfen oder Dämonen.

Gone Home 1

Das Spiel mit den Erwartungen

Gone Home 6Vor diesem Hintergrund möchte ich Gone Home betrachten, ein Spiel, das weder die eine noch die andere Spielform des phantastischen Erzählraums aufweist, aber dennoch mit der Erwartung spielt, dass zumindest die zweite Variante auftreten könnte: ein Erzählraum mit zuverlässiger Struktur und phantastischen Inhalten. So kann der Spieler etwa Aufzeichnungen darüber finden, dass Kaitlins kleine Schwester Sam einen Geist im Hausflur gesehen haben will. Das wirft die Frage auf, ob es tatsächlich in dem Haus spukt. Jedenfalls verstärken Sturm und Regen die Stimmung eines Spukhauses. Ebenso das flackernde Licht, das in vielen Geisterfilmen auf die Aktivität der Verstorbenen hinweist. Zudem finden sich in dem Haus, das einen mysteriösen Vorbesitzer hat, Geheimverstecke, Geheimgänge und kultische Symbole. Auch scheint es unwahrscheinlich, dass niemand zuhause ist, wenn Kaitlin nach einem Jahr der Abwesenheit heimkehrt. Man könnte eher einen herzlichen Empfang erwarten als ein verlassenes Haus. Hinzu kommt die Andeutung eines tragischen Ereignisses durch den spannungsvollen Einstieg in den Erzählraum: Der Brief an der Haustür und die Sprachnachricht auf dem Anrufbeantworter im Foyer des Hauses deuten, wie gesagt, auf eine Katastrophe hin, die sich vor Kaitlins Ankunft ereignet hat und durch sie nun aufgearbeitet werden muss. Aufgrund verschiedener Informationen entsteht bald der Eindruck, dass sich Kaitlins Schwester auf den Dachboden zurückgezogen haben könnte, um dort Selbstmord zu begehen. Es ist also leicht vorstellbar, dass die Spieler durch die beschriebene Inszenierung den Eindruck gewinnen, sich (möglicherweise) in einem phantastischen Erzählraum zu befinden, in dem sich wiederum eine Geschichte mit tragischem Ende zugetragen hat.

Dass die einzelnen Familienmitglieder bloß deswegen nicht zuhause sind, weil sie etwas zu erledigen haben, das ihnen wichtiger als Kaitlins Ankunft erscheint, ist die realistische Auflösung von Gone Home. Sie kommt ohne eine tragische Katastrophe aus und weist das Phantastische in die Vorstellungswelt der Figuren und des Spielers zurück. Die Geschichte wirkt trotz dieses wenig dramatischen Schlusspunktes nicht banal, weil die individuellen Gründe für die Abwesenheit der Familienmitglieder triftig sind und selbst eine gewisse Brisanz aufweisen. Je genauer der Spieler die Geschichte rekonstruiert, desto deutlicher wird für ihn erkennbar, dass sich weder Phantastisches noch Tragisches in dem Haus zugetragen hat. Das Dramatische hat sich bis dahin, wenn überhaupt, allein im Kopf des Spielers zugetragen. Jedes noch so kleine Detail wird realistisch aufgelöst. Sogar die flackernden Lampen werden durch einen Fehler in der Elektrik des Hauses erklärt.

Gone Home 4

Diese Auflösung mag für den einen oder anderen Spieler enttäuschend sein, sofern er einen dramatischen Ausgang des Geschehens erwartet hat, also eher das Außergewöhnliche und Unterhaltsame als schlussendlich das Realistische. Setzt man diese Auflösung aber in Bezug zu der Vielzahl von Videospielgeschichten, die eine unreflektierte Darstellung des Phantastischen und Dramatischen zur Spannungserzeugung einsetzen, lässt sich das Herausragende der Erzählweise in Gone Home erahnen. Während des Spielens folgt der Spieler einer Erwartung, die sich nie erfüllt, genauer: er durchwandert mehrere Deutungsansätze, die von dem Schlimmsten ausgehen, bis sie zu einer glaubhaften Wirklichkeitsdarstellung durchgedrungen sind, in der es um jugendliche Identitätsfindung, sexuelle Orientierung, Emanzipation, die erste Liebe und Eheprobleme geht – aber nicht mehr um Geister oder Selbstmord. Das Tragische und das Phantastische sind damit lediglich spannungsvolle Aufhänger für eine im Kern realistische Erzählung.

Aufklärerisches Spiel mit den Genres

Man könnte also behaupten, dass Gone Home ein didaktisches, geradezu aufklärerisches Erzählkonzept verfolgt, das von dem Fiktional-Dramatisierten ausgeht, dieses überwindet und schließlich in sozial relevante Themen mündet, die nicht nur glaubwürdig und wirklichkeitsnah, sondern außerdem durchweg mit positivem Ausgang präsentiert werden. Für ein Fachmagazin wie Mellowdramatix, das sich vielfach mit dem Unwirklichen und Schrecklichen beschäftigt, ist Gone Home daher ein Hingucker – eine realistische Erzählung, die nahe am Phantastischen und Schrecklichen operiert, ohne je die Grenze dorthin zu überschreiten, sich aber zugleich deren Unheimlichkeit zunutze macht.

Gone Home ist besonders, weil es mit den Grenzen der Genres spielt und etwas Eigenes erschafft. Das kann in der heutigen marktorientierten Produktion von Erzählungen den Erfolg eines Videospiels leicht gefährden. Denkbar wäre, dass diejenigen Spieler, die eine realitätsnahe Erzählung wünschen, sich gar nicht erst auf Gone Home einlassen, während Spieler, die das Dramatische und Außergewöhnliche wünschen, am Ende von der Einfachheit der Auflösung enttäuscht sein könnten und das Spiel daher schlecht bewerten. Wer in einer Marktwirtschaft etwas verkaufen will, sollte dem Kunden geben, was er verlangt. Ein Genre muss, dieser Logik folgend, unbedingt die Erwartungen erfüllen, die der Käufer daran setzt. Andernfalls fühlt dieser sich womöglich betrogen. Das ist aus Sicht der Kunst, die an Verkaufszahlen (zunächst) nicht interessiert ist, ein erhebliches Problem. Gone Home schert sich nicht darum und spielt sowohl mit den Erwartungen des Spielers als auch mit den Grenzen der Genres.

Gone Home 5

Fazit

Gone Home ist ein Story-Exploration-Game, das dem Spieler die Erforschung eines interaktiven Erzählraums aus der Ich-Perspektive ermöglicht, mit dem Ziel, aus den Dingen, die er vorfindet, eine Geschichte zu rekonstruieren. Dabei spielt Gone Home gekonnt mit den Kategorien des Phantastischen und Tragischen, um vermittels dieser eine spannungsvolle Atmosphäre des Unheimlichen zu erzeugen, die letztlich ins Alltägliche aufgelöst wird. Was bleibt, ist die Erfahrung einer erstaunlichen Reise durch das eigene (Un-)Vermögen, die Welt zu interpretieren.

 

Literatur

Aylett, Ruth: Narrative in Virtual Environments – Towards Emergent Narrative. In: Proceedings of the AAAI fall symposium on narrative intelligence. Salford 1999, S. 83-86.

Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur. Berlin 2007.

Herbst, Alban Nikolai: Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen. Heidelberg 2008.

Louchart, Sandy, Ruth Aylett: Narative theory and emergent interactive narrative. In: Int. J. Continuing Engineering Education and Lifelong Learning, Vol. 14, No. 6, 2004, S. 506-518.

 

Trailer zu Gone Home

 

Infokasten

„Gone Home“

Entwickler: The Fullbright Company

Publisher: The Fullbright Company (digital), Merge Games, Headup Games (Ladenversion)

Plattformen: Windows PC, Xbox One, PlayStation 4, Mac OS

USA 2013

Veröffentlichung: 15.08.2013 (digital); 03.07.14 (als Datenträger)

Letzte Änderung amDonnerstag, 07 Mai 2020 06:59
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

Unter anderem auch das . . .

„Das Grauen (seltener: der Graus) ist ein Substantiv der gehobenen Umgangssprache für ein gesteigertes Gefühl der Angst oder des Entsetzens, das meist mit der Wahrnehmung des Unheimlichen oder Übernatürlichen verknüpft ist. Es rührt sprachgeschichtlich vom mhd. grûwen, „Schauder“ her, welcher Begriff auch als Synonym verwendet wird.“

– Wikipedia

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