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Film

Fremd in der Familie: „An Inspector Calls“

Filmstill Pandastorm Pictures, Glücksstern PR Filmstill

Je mehr Licht ein Inspektor in die Vergangenheit der wohlhabenden Familie Birling bringt, desto düsterer wird diese. Die BBC-Verfilmung von J. B. Priestleys Theaterstück ist herausragend.

Rezension und Einordnung

AIC6Die Geschichte von An Inspector Calls ist angesiedelt im Jahr 1912 in England. Die wohlhabende Familie Birling feiert die Verlobung von Tochter Sheila (Chloe Pirrie) mit Gerald Croft (Kyle Soller), dem Sohn des ärgsten Konkurrenten von Familienoberhaupt Arthur Birling (Ken Stott). Durch diese Familienzusammenführung soll der Konflikt beider Familien beigelegt werden. Alles scheint gut zu werden, einzig das jüngste Mitglied der Familie, Eric Birling (Finn Cole), trinkt zu viel und stört durch bissige Kommentare und Anspielungen immer wieder die gelebte Idylle dieser Oberschicht-Festivität. Ohne jegliche Vorbereitung, weder für das Publikum noch für die Familie Birling, steht mitten in der Nacht ein Inspektor (David Thewlis) vor der Tür und verlangt nach Arthur Birling. Er berichtet von dem Selbstmord einer jungen Frau (Sophie Rundle), die bis vor einiger Zeit in Birlings Werk als Weberin beschäftigt war. Nach und nach fügt der Inspektor in Anwesenheit der Familie ein Puzzle zusammen, welches verdeutlicht, dass die Tote ein Verbindungspunkt zwischen allen Anwesenden bildet.

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AIC2Aus der simplen Konstellation entwickelt sich ein alles verschlingender Sog. Der Inspektor offenbart die Fehltritte der Familie Birling ohne Skrupel. Dabei treiben die Familienmitglieder selbst Keile in das fragile Familienkonstrukt, frei nach der Maxime: „Jeder ist sich selbst der Nächste“. Die Figuren haben eigene Interessen und folgen dem Rätsel des Inspektors teils ablehnend, teils aggressiv oder gar reumütig. Die Konstellationen der Figuren auf der Bühne sorgt für Spannung in einem Umfeld, in dem jeder etwas zu verbergen scheint. Als der Inspektor eine Person nach der anderen mit einer Fotografie der Toten konfrontiert, verschärft sich der Ton. Der Inspektor gerät für die meisten zum Feindbild, für eine der Personen vielleicht zur letzten Hoffnung.

AIC5In der Inszenierung von Schrecken gibt es verschiedene prototypische Konfliktstrukturen, die jeweils auf einzelne Werke zurückgeführt werden können. An Inspector Calls orientiert sich an zwei Paradigmen, die hier zu etwas besonderem verquickt werden. An Inspector Calls greift das Konzept aus Geschlossene Gesellschaft von Jean-Paul Sartre auf, dessen Essenz lautet: „Die Hölle, das sind die anderen“. Ein Ausspruch der Figur Garcin innerhalb des Theaterstücks selbst. Die Geschlossene Gesellschaft wurde am 27. Mai 1944 uraufgeführt, An Ispector Calls von J. B. Priestley erschien 1946. Die Schreckensinszenierung im verwebten Gefüge der Familienstruktur der Birlings erinnert, in der BBC-Inszenierung aus dem Jahr 2015, stark an die Figurenkonstellation aus Sartres Werk. Durch ihre Existenz machen die Figuren einander das Leben schwer. Dieser Umstand offenbart sich über den Verlauf des Films zunehmend. Der zweite Bezugspunkt findet sich in der Radierung Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer von Francisco de Goya (1799). Der Titel des Werkes gibt bereits den entscheidenden Hinweis, auch wenn sich die Perspektive des Interpretierens verlagert. Während das Bild verdeutlicht, dass Schrecken Einzug in den Geist der Menschen haben, wenn diese schlafen, findet sich ein ähnlicher Konflikt ebenfalls in An Inspector Calls. Auf zwei Ebenen beeinflusst dieses Werk die Inszenierung von Schrecken. Zum einen öffnet es den Raum für das Phantastische, zum anderen verweist es darauf, dass Ungeheuer entstehen, wenn die Vernunft versagt. Das Ende von An Inspector Calls rückt das gesamte Werk ins Phantastische und offenbart dadurch eine andere Lesart dessen, was zuvor präsentiert wurde. Zum anderen schildert das Werk wiederholt, wie durch Egoismus und ein bewusstes oder unbewusstes Ablegen der Vernunft einzelner Figuren Schrecken entstehen, die andere ertragen müssen.

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Die Verfilmung von An Inspector Calls ist exzellent. Hier gibt es nichts zu kritisieren. Wer einen nahezu perfekten Thriller sucht, wird ihn hier finden. Auch im Kontext anderer historischer Werke der Phantastik, die mit Schreckensinszenierung arbeiten, stellt An Inspector Calls einen wichtigen Entwicklungsschritt dar. Die Essenz des Werkes ist zeitlos gut und offenbart Gesellschaftskritik und Schrecken, die nur Menschen sich gegenseitig antun können.

Trailer zu An Inspector Calls

Infokasten

„An Inspector Calls“

Regie: Aisling Walsh

Drehbuch: Helen Edmundson

Autor des Theaterstücks: J. B. Priestley

Produktion: BBC, Drama Republic

Verleih: Panda Storm

UK | 2015

Veröffentlichung: Der Film ist seit dem 15.11.2019 auf DVD und als Video-on-Demand im Handel erhältlich.

Bildrechte: Die Bilder dieses Artikels sind Ausschnitte aus dem besprochenen Medieninhalt. Deren Rechteinhaber können Sie dieser Infobox entnehmen.

Letzte Änderung amSonntag, 04 April 2021 17:38
Thomas Heuer

Dr. phil. Medienwissenschaft

Forscher, Fotograf, Filmemacher, Journalist, Gamer

Forschungsfelder: Immersionsmedien, Horror, vergleichende Mediendramaturgien, Game Studies, Medienethik und -philosophie

Abschlüsse: Medienwissenschaft M. A., Multimedia Production B. A., Facharbeiter Kommunikationselektronik

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Dann, wenn es tagt, entweichen sie, jedes nach seiner Seite: Hexen, Kobolde, Visionen, phantastische Bilder. Nur gut, daß sich dieses Volk nur nachts und im Dunkel zeigt. Niemand konnte herausfinden, wo es sich tagsüber einschließt und verbirgt.

– Francisco de Goya über eine phantastische Radierung aus seiner Bilderreihe Los Caprichos.

(Dazu passt das 43. Blatt der Caprichos).

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