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Comics

„BLAME!“ – Reise durch ein groteskes Stadtlabyrinth der Zukunft

Empfehlung Artwork Tsutomu Nihei, Cross Cult Artwork

Der legendäre Cyberpunk-Manga BLAME! von Tsutomu Nihei wurde neuaufgelegt. Zeit, sich einem Klassiker zu nähern, der eine besondere Inszenierung aufweist.

Rezension

Der Manga-Zeichner Tsutomu Nihei hat sich unter Fans japanischer Comics und Animationsserien längst einen Namen gemacht, zunächst mit seiner BLAME!-Reihe, die das Cyberpunk-Motiv des technischen Kontrollverlustes aufgreift und eine labyrinthische Zukunftsstadt inszeniert, später mit der Reihe Biomega, die eine ähnliche Umgestaltung heutiger Lebenswelten darstellt, allerdings mit den Mitteln der Biochemie statt mit denen der Computertechnologie wie in BLAME!. Nimmt man neben diesen beiden Comics noch Knights of Sidonia zur Hand, wird erkennbar, dass die von Nihei präsentierten Welten Fremdartiges an sich haben, das zunächst verstört und je nach Leser eine Faszination des Unheimlichen auslösen kann; von dem Unheimlichen ist die Rede, weil Nihei die Grundfesten menschlicher Identität nicht bloß „erschüttert“, sondern einreißt und auf den Ruinen der Vorstellungen, was Raum, Zeit und Mensch ist, etwas Neues errichtet, etwas Gigantisches und Allumfassendes, dem sich die Comicfiguren ergeben (müssen) und mit ihnen die Leser.

blame 0Im Falle des Mangas BLAME! ist dieser allesumspannende Schrecken jenes schon erwähnte Stadtlabyrinth, durch dessen schiere Endlosigkeit die Figuren irren und das für sie zur neuen Welt geworden ist; das Menschengemachte hat sich verselbstständigt in einer autonom organisierten Stadt, die nach den Funktionsweisen eines Computers operiert und ihre Strukturen unkontrolliert ins Unendliche ausdehnt. Derart entstehen monumentale Maßstäbe, darunter Entfernungen, die sich menschlicher Vorstellungskraft entziehen. Unterschiedlichste Formen der Architektur reihen sich aneinander und wahllos ineinander; hier kann man spüren, dass Nihei Baukunst studiert hat. In BLAME! räumt der Zeichner den architektonischen Formen und Strukturen einen übermächtigen Platz ein, sodass sie zweifellos phantastische, weil unheimliche Ausmaße annehmen. Gegenüber der riesenhaften Größe der Bauwerke, ihrer unfassbaren Weite und verwinkelten Enge sind die Stadtbewohner geradezu ohnmächtig – ebenso wie gegenüber den Abwehrmechanismen, die einstmals die Stadtgründer erdachten und die sich nun seit niemand-weiß-wie-lang, wohl seit Jahrmillionen gegen die Verbliebenen richten. Durch diese Welt wandert ein androgyner Mann namens Killy. Auf der Suche nach einem bestimmten Typ menschlichen Erbgutes, den er „die Netzwerkgene“ nennt, passiert Killy immer wieder die Überreste verblichener Stadtbewohner und andere Schrecknisse, die der Technologie entsprungen sind. In einer episodenhaften Begegnung mit Stadtbewohnern, die plötzlich zuhauf in den Schächten und Gängen auftauchen, nackt und bar jeder Kultur, entdeckt Killy beispielsweise eine Geburtenmaschine, die ohne Unterlass arbeitet und mittlerweile ein Volk aus geklonten Frauen, ja, „produziert“ hat.

Hiermit ist nur angedeutet, worum es in BLAME! geht; denn interessierte Leser sollen sich die Zweitnatur des Technologischen, die dieser Comic in düsteren Bildern darbringt, eigenständig erschließen. Der Manga geht nämlich in medias res, also ohne umschweifige Erklärungen mittenhinein in das Geschehen, ganz so, wie man es guten Romanen nachsagt. Dementsprechend trifft den Leser die Fremdartigkeit der Welt völlig unerwartet. Dennoch, BLAME! spielt zwar in einer rätselhaften Welt, ist selbst aber keine rätselhafte Geschichte, sondern locker in Form einer Heldenfahrt angelegt, die das Motiv der phantastischen Reise aufgreift. Der Manga schickt den Leser durch eine ihm fremde Welt und konfrontiert ihn mit diversen Merkwürdigkeiten, die durchweg in dem pseudo-realistischen Gewand des Cyberpunks gestaltet sind; pseudo-realistisch deswegen, weil der Comic die paranormalen Phänomene, die er schildert, implizit durch eine Technologie erklärt, die es heute noch nicht gibt, in ferner Zukunft aber, so die Fiktion, geben könnte.

blame 2Es gehört zu Niheis Erzählweise, handlungsrelevante Zusammenhänge über lange Zeit im Unklaren zu belassen, etwa die Figurenmotivationen oder die Beschaffenheit der Cyberpunk-Welt, die immer nur ausschnittsweise gezeigt wird. Viele Phänomene ebendieser Welt bleiben ganz ohne Erklärung, sodass sie der Imagination des Lesers übergeben werden; lediglich die Schrecken dieser Phänomene spiegeln in den Augen des wortkargen Protagonisten Killy, der oftmals, wie es scheint, auf das Grauen gar nicht mehr anders als mit Gegengewalt zu reagieren weiß. Erzählrhythmisch wechselt der Manga zwischen ausgedehnten Action-Szenen mit expliziter Gewaltdarstellung und schweigsamen Passagen, in denen Killy und seine späteren Begleiter durch die Stadtstrukturen marschieren.

Man kann BLAME!, gemessen an der Zielgruppe erwachsener Männer, als Seinen-Manga klassifizieren, so wie es in der Wikipedia getan wird. Das würde erklären, weshalb dieser Comic durchaus als leichte Action-Lektüre in Bus und Bahn gelesen werden kann. Das eigentlich Faszinierende geschieht eher im Nebenher des Genres, in den Leerstellen, die das Genre offenlässt, konkret in den ruhigen Phasen von BLAME!, die der Exploration der fortlaufenden Architektur gelten. Hier wird in der stummen Visualisierung der Panels das Ausmaß des Schreckens eingefangen, die Singularität Killys und die monströse Monumentalität der Stadt, die alles Menschliche nichtig erscheinen lässt. Hingegen in den extensiven Action-Szenen scheint die Cyberpunk-Welt plötzlich bloße Kulisse zu sein. Ganz so einfach ist es nicht, da sich die erzählte Welt und die Action wechselseitig bedingen: die anhaltende Gewalt, die als das einzige Mittel zur Konfliktlösung herangezogen wird, ist ein Aspekt des Schrecklichen, das dieser Welt innewohnt. Deshalb erscheint die explizite Darstellung der Gewalt auch als notwendig, um die Wirkung des Schrecklichen visuell zu bekräftigen, zumal die Gewalt vielfach ganz unvermittelt in das Geschehen einbricht und die Möglichkeiten, wie die Handlung hätte fortschreiten können, jäh durchstreicht. Es werden sogar Dialoge aus dem Nichts abgewürgt, indem etwa die Gesichter von Killys Gesprächspartnern von einem Panel zum nächsten explodieren. Leser, die bloß einen unterhaltsamen Action-Comic für Erwachsene lesen wollen, können über die lakonisch präsentierten Schrecken der Technologie problemlos hinweggehen, sie gewissermaßen als reines Ambiente nehmen. Dieser Lesart entgeht allerdings die Tiefe jener Schrecken, die eben doch immer wieder angedeutet, aber niemals als solche an- oder ausgesprochen werden. Daraus entwickelt sich eine Nüchternheit und Kühle, die abweisend, weil emotionslos und daher „unmenschlich“ wirkt, aber gerade deswegen zu der allgegenwärtigen Technokratie passt. In BLAME!, aber auch werkübergreifend lässt sich in Niheis Erzählweise eine Inszenierungsform entdecken, die das jeweilige Genre soweit wie möglich dehnt, ohne es je aufzugeben, um darin auf diese Weise etwas einzufangen, das über den reinen Unterhaltungswert des Gezeigten hinausgeht.

blame 4Das Schreckliche als visuell Erfahrbares wird überhaupt erst durch Niheis besonderen Zeichenstil beschworen sowie, als Teil des Stils, durch bestimmte, in vielen Mangas dieses Künstlers wiederkehrende Ausgestaltungen. Man denke hierbei an das Siliziumleben aus BLAME!, das zwar eine humanoide Gestalt annimmt, selbst aber dem Technischen entwachsen ist und dem Biologischen daher, insbesondere dem Menschlichen, dessen Denkmuster es nicht versteht, feindselig gegenübersteht. Nihei verschafft hier der genrebildenden Vermengung von Mensch und Maschine zu einer Gestalt. Jene Siliziumwesen tragen wie Cyborgs Instrumente als Gliedmaßen, meist Feuerwaffen, die sie an ihre lebensfeindlichen Umstände grässlich angepasst erscheinen lassen, ganz anders als die Menschen, die regelmäßig in dem  Gemetzel untergehen. Oft sind die Siliziumleben so sehr mit dem Mechanischen verwachsen, das sie weder Mund noch Unterkiefer aufweisen, der Kopf also bereits in einer schwarzen schlauchartigen Struktur steckt. Was an den nicht-biologischen Wesen Niheis, seien es Maschinen oder künstliche Intelligenzen, noch irgend-menschlich scheint, ist entstellt und kränklich bleich, oft hässlich und ekelerregend. Geht es darum, die düstere, irgendwie mit der Subkultur des Gothic verwandten Visualisierungen Niheis zu beschreiben, so ist „grotesk“ das treffendste Wort – wobei dem Grotesken hier jegliche Komik abgeht und daran allein das Verstörende zurückbleibt.

Erstmals in Deutschland veröffentlicht wurde BLAME! durch den Egmont Verlag ab 2001. Seit Herbst 2017 erscheint die kultige Mangareihe nun im Cross Cult Verlag in einer Master Edition, bestehend aus sechs Bänden im Hardcover-Einband, die komplett neu übersetzt wurden. Aufgrund der eher mangelhaften Übersetzung des vorherigen Verlegers war dies dringend nötig (auch wenn nicht allzu viel in diesen Mangas geredet wird).

Nicht nur für Comicleser, die BLAME! noch nicht kennen, ist diese Neuauflage eine besondere Gelegenheit. Auch jene können getrost ein zweites Mal zugreifen, die den Kultmanga schon in den 00ern gelesen haben. Denn die Exemplare dieser Master Edition eignen sich durchaus als Sammlerstücke. Wen Cyberpunk-Themen interessieren, gepaart mit viel Action, expliziter Gewaltdarstellung und einer Atmosphäre des Technisch-Fremdartigen, der wird in diesem Comic eine spannende Lektüre finden, die wie gesagt vielfach über den reinen Unterhaltungswert hinausgehen wird. Zu BLAME! ist 2017 zudem erstmals ein abendfüllender Film erschienen, zunächst im Streaming-Angebot von Netflix und jüngst, Ende Februar, auf DVD/Blu-Ray bei Universum Film.

cover

Infokasten

„BLAME! – Master Edition“

Geschichte & Illustration: Tsutomu Nihei

Übersetzung: Janine Wetherell (aus dem Japanischen)

Sprache: Deutsch

Verlag: Cross Cult

Japan | 1998 -2003

6 Bände à ca. 400 Seiten, Hardcover, Schwarz-Weiß mit Farbbildern

Veröffentlichung der Master Edition seit Oktober 2017, Band 4 erscheint im April 2018

Letzte Änderung amFreitag, 26 Juni 2020 10:54
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

Unter anderem auch das . . .

„Phantastik, auch Fantastik, ist ein literarischer Genrebegriff, der in Fachkreisen sehr unterschiedlich definiert wird. Außerwissenschaftlich bezeichnet der Begriff „fantastisch“ alles, was unglaublich, versponnen, wunderbar oder großartig ist. Der Ursprung des Begriffs „phantastische Literatur“ ist ein Übersetzungsfehler: E. T. A. Hoffmanns „Fantasiestücke in Callots Manier“ wurden 1814 als „Contes fantastiques“ ins Französische übersetzt, statt richtigerweise als „Contes de la fantaisie“.“

– Wikipedia

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