Eine Anekdote mit Tipps und Tricks fürs Horror-Rollenspiel
- geschrieben von André Vollmer
- Publiziert in Metablog
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Tischrollenspiele aus dem Horror-Genre, die ein realistisches Setting aufbauen, um darin das Übernatürliche einbrechen zu lassen, wie etwa World of Darkness, Cthulhu oder Kleine Ängste, haben einen Haken: Der Spieler weiß genau, dass er an einem derartigen Horror-Spiel teilnimmt und ist daher darauf gefasst, vermittels seiner gedachten Spielfigur Schreckliches zu erleben. Für ihn ist die Begegnung mit dem Unbekannten ohnehin keine emotionale und existenzielle Grenzsituation wie etwa für seine Spielfigur, weil es wie alles Geschehen in einem Rollenspiel sprachlich durch Spielleiter und Spieler vermittelt wird. Es bedarf schon einer gehörigen Portion Rhetorik seitens des Spielleiters und viel Konzentration auf Seiten der Spieler, um eine so tiefe Atmosphäre zu erzeugen, dass der Schrecken die Spieler wirklich fesselt. Erschwerend kommt hinzu, dass sie das Unbekannte – seien es nun Monstren, dunkle Zauberei oder andere fantastische Motive – vermutlich schon aus Rollenspielen anderer Genres zur Genüge kennen und bekämpft haben.
Rezipienten von Computerspielen und Filmen sind sich ebenso im Klaren darüber, was sie gerade konsumieren. Allerdings denke ich, dass hier die Bildgewalt samt der musikalischen Untermalung seine Wirkung zum Schrecken tut, während der Spielleiter eines Tischrollenspiels, auch wenn er nicht auf akustisches Ambiente verzichten muss, doch ganz auf seine rhetorischen Fähigkeiten zurückgeworfen ist.
Wie soll ein Spielleiter also seiner Spielrunde eine Gänsehaut verpassen, wenn diese gemütlich bei Snacks am Tisch sitzt und das Grauen an jeder Ecke erwartet? Einer unserer Spielabende hat uns gezeigt: Die Plötzlichkeit, mit der im Rollenspiel eine bedrohliche Situation eintritt, kann zur Atmosphäre beitragen, indem gewissermaßen eine Art kleiner Schock bei den Spielern erzeugt wird. So etwas könnte aber eher schwierig für den Spielleiter umzusetzen sein – oder?
Ein einfacher Trick unseres Spielleiters, hier bekannt als Syno Nyhm, hat für eine plötzliche Bedrohung mitsamt der nötigen Schockwirkung gesorgt. Und dieser Kniff war rein rhetorischer bzw. dramaturgischer Natur.
Unser Spielleiter deutete kurz nach Beginn der Spielrunde ein Szenario an, das der Horror-Erfahrene leicht dem Subgenre Haunted Mansion zuordnen konnte. Uns erwartete also eine Gruselgeschichte in einem Haus, das aus irgendwelchen Gründen heimgesucht wird. Jegliche Handlung bis zum Erreichen dieses verfluchten Anwesens, in dem wir ganz klassisch eine Nacht verbringen sollten, schien daher noch zum Prolog zu gehören, der uns Raum geben sollte, die richtige Darstellung unserer Charaktere zu finden. Folglich war der eigentliche Schrecken noch nicht zu erwarten. An einer Stelle jedoch, lange bevor wir das Haus überhaupt erreichen würden, brach der Spielleiter mit unseren Erwartungen.
Unsere Charaktere führten gerade eine zwanglose Konversation mit einem Nicht-Spieler-Charakter, als ein Klingeln an der Haustür diesen von uns fortführte. Vor dem Haus standen Häscher, von denen wir noch gar nichts wussten, und schossen den Nicht-Spieler-Charakter prompt über den Haufen, um dann ins Haus einzudringen und uns zu bedrohen. Auf den ersten Blick scheint das eine platte und unmotivierte Wendung zu sein, nicht aber, wenn man bedenkt, was die Spieler eigentlich erwartet haben. Der radikale Bruch mit dem angedeuteten Plot erzeugte einen Schockmoment und schuf Raum für den Schrecken eines unerwarteten Home-Invasion-Szenarios. Ebenso überraschend kam der Tod des Nicht-Spieler-Charakters, mit dem man sich schon ein wenig angefreundet hatte. Die Handlung war plötzlich wieder in alle Richtungen offen.
Der Clou dabei war, wie ich finde, dass der angedeutete Plot mit dem verfluchten Haus nicht einfach verworfen wurde, sondern auf andere, zu Beginn nicht absehbare Weise in das Abenteuer integriert wurde. Dadurch kam nicht das Gefühl auf, der Spielleiter hätte einen an der Nase herumgeführt, obwohl genau das natürlich der Fall war. Stattdessen ergab sich für uns – trotz des krassen Wendepunkts – der Eindruck einer runden Handlung, in der alles am richtigen Platz und nichts überflüssig ist.
Zweifellos reagieren nicht alle Spieler wie wir auf diese Art der Inszenierung. Vielleicht empfinden manche sogar Enttäuschung, weil sie etwas Anderes erwartet hatten. Bei uns allerdings sorgte die Wendung für einen intensiven Schockmoment, so intensiv eben, wie es in einem Erzählspiel möglich ist.
André Vollmer
Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.