„Rain World“ – Knopfaugen-Kätzchen im Starkregen
- geschrieben von André Vollmer
- Publiziert in Games
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In dem Sidescroller Rain World erkunden die Spieler in Gestalt einer putzigen Katzenschnecke eine offene Endzeitwelt und sind dabei stetig auf Nahrungssuche.
Rezension
Rain World ist eine postapokalyptische Welt aus Industrielandschaften, in denen das mutierte Leben nach dem Vergehen der Menschheit kreucht und fleucht. Zumindest ist dies mein deutender Ansatz, um diese pixelige, in vorwiegend gedämpften Farbtönen realisierte Spielumgebung zu beschreiben. Denn über den Hintergrund der Spielwelt erfahren die Spielenden nichts, was sie nicht selbst aus ihr erschließen (ausgenommen der Trailer, der eine erzählerische Rahmung schafft, plappert einen Teil des Geheimnisses aus). Mich animierte die Spielwelt stark zu spekulierendem Betrachten, während ich sie, in Gestalt einer Katzenschnecke, durchwanderte. Aber das nur am Rande, denn ich war damit beschäftigt, nicht zu verhungern oder gefressen zu werden. Und dann der monsunartige Regen, der mit schmetternder Gewalt niederging und regelmäßig sämtliche Spalten, Ritzen und Rohre flutete, kurzum: alles und jeden ertränkte! Wenn die Katzenschnecke, im Original „Slugcat“, sich keinen hermetisch verriegelten Unterschlupf sucht, um darin die Regenzeit zu überdauern, ertrinkt auch sie. Das wollte ich dem niedlichen Allesfresser mit den weißen Öhrchen und den schwarzen Knopfaugen tunlichst ersparen.
Wie der Name „Slugcat“ verrät, ist die Spielfigur halb Schnecke, halb Katze – eine ulkige Kombination, die mich an Mutation denken ließ. Mit den Vorderpfoten kann die Katzenschnecke Steine und Metallstangen halten und werfen, um so mit der Spielwelt zu interagieren. Außerdem ist das Tierchen denkbar biegsam und kann sich durch allerlei Tunnel, Gänge und Schächte wuseln. In den ersten Spielumgebungen erklären ominöse Stielaugen-Wesen die grundlegende Spielmechanik durch Einblendung von Symbolen, die wie Laserprojektionen aussehen. Alles Weitere muss der Spieler selbst herausfinden, auch wenn hier und da weitere hilfreiche Hinweise aufleuchten; die einäuigen Geschöpfe folgen der Katzenschnecke nämlich auf ihrer Reise, beobachten sie scheu aus der Ferne und weisen ihr den Weg.
Leben als „Slugcat“: Erkunden, Sammeln, Kombinieren
Das Gameplay von Rain World besteht im Wesentlichen aus dem Erkunden einer offenen Spielumgebung, dem Sammeln von verschiedenartiger Nahrung sowie der Kombination nützlicher Fundstücke mit der Spielumgebung. Die Katzenschnecke ist hungrig und kann, wenn sie Fledermäuse, Früchte oder Insekten futtert, eine Anzeige von bis zu sieben Kugeln auffüllen. Kommt der Regen, muss sie sich schlafen legen und verbraucht in ihrem Schlummer drei Kugeln. Im Gegenzug wandert eine Skala mit asiatisch anmutenden Schriftzeichen ein Symbol weiter. Um in neue Areale zu gelangen, müssen die dafür erforderlichen Schriftzeichen erreicht werden. Andernfalls öffnet sich das jeweilige Tor in das neue Gebiet nicht und die Katzenschnecke muss umdrehen. Stirbt das kleine Raubtier auf seiner Reise oder legt es sich schlafen ohne die erforderlichen drei Kugeln an Sättigung, rutscht die Skala wieder um ein Schriftzeichen zurück. Die Funktion jener Skala erklärt das Spiel nicht. Es obliegt dem Spieler, dies herauszufinden.
Rain World endet niemals, lediglich das Fortschreiten in der Spielwelt wird erschwert, zumal Nahrungsquellen oft weit auseinander liegen und sich nicht nach jeder Regenphase wieder auffüllen. In der unwegsamen Umgebung gibt es zudem zahllose Fressfeinde, auch solche, die man nicht sofort erkennt (Stichwort: Mimikry). An der Tagesordnung also sind „Backtracking“ (erkundete Wege öfters gehen) und „Trial and Error“ (Versuch und Irrtum). Ein Glück daher, dass die Unterschlüpfe auch als Speicherpunkt fungieren. Läuft es schlecht, müssen manchmal sehr lange Wege erneut zurückgelegt werden. Das ist aber nicht schlimm, da die Spielwelt tendenziell offen ist und den Spielern viele unterschiedliche Pfade anbietet, sodass neue Routen ausprobiert werden können. An das Startlevel schließen zum Beispiel mehrere Areale an, die je nachdem, in welche Richtung man zu Beginn aufbricht, erkundet werden können. Das Schöne an Rain World ist, dass es diejenigen, die hartnäckig bleiben, belohnen wird.
Da den Spielern aufgrund der phantastischen Gestaltung der Spielwelt deren Flora und Fauna gänzlich unbekannt sind, gibt es viel zu entdecken: unbekannte Gefahren und Überlebensstrategien gleichermaßen. Zum Beispiel kann die geübte Katzenschnecke Fledermäuse mit Steinen abwerfen oder damit Riesenechsen betäuben. Manchmal hilft es, Stangen in die Wände zu rammen und daran emporzuklettern, um Durchgänge oder Nahrung zu erreichen. Manch gefährliches Tier lässt sich auch fressen, wenn man es denn besiegen kann, etwa die Insekten, die ein wenig an Ohrenkneifer erinnern und in den unterirdischen Schächten der Stadtstrukturen leben (Aber Vorsicht! Zupacken und sofort auffressen! Andernfalls gibt es einen Stromschlag, der die Katzenschnecke einen Moment lang lähmt). Wieder andere Tiere können Freunde werden, wenn man sie füttert. Ingesamt kann die Flora und Fauna ungemein nützlich sein, wenn man weiß, wie sie sich als Werkzeuge verwenden lassen.
Spielmodi „The Monk“ und „The Hunter“
Die Spielmechanik von Rain World kann allerdings beizeiten ein wenig anstrengend sein, vor allem, wenn die Spieler schnell in neue Areale vordringen wollen. Ist man von Fressfeinden eingekesselt und immer wieder auf den letzten Speicherpunkt zurückgeworfen, bis man alle erspielten Schriftzeichen verloren hat, kann das Spiel sehr fordernd werden. Hier sind Ausdauer und Frusttoleranz gefragt. Wer es etwas leichter haben möchte, kann den Spielmodus „The Monk“ spielen. Hier steuert man eine gelbe Katzenschnecke, die zwar nur fünf Sättigungskugeln hat und daher weniger auf Vorrat futtern kann, dafür aber laut Beschreibung stärker im Einklang mit der Natur lebt – vermutlich reagieren weniger Fressfeinde auf das Tier oder es treten weniger Fressfeinde auf. Die genauen Vorteile wurden in der kurzen Testphase dieses Spielmodus bisher nicht deutlich. Einen spürbaren Unterschied birgt dagegen der Spielmodus „The Hunter“, in dem der Spieler in die Rolle einer roten Katzenschnecke schlüpft, die schon lebenserfahren ist: Sie bewegt sich deutlich schneller, hat bis zu neun Sättigungskugeln und kann eine Stange zusätzlich auf dem Rücken tragen. Normalerweise kann immer nur eine Stange gehalten werden. Kompensiert werden diese Vorzüge durch den Nachteil, sich nur von Fleisch ernähren zu können. Zudem beginnt das Spiel bereits in dem Areal „Firm Arrays“, das voller bizarrer (Raub-) Tiere ist – viele davon größer als man selbst. Dieser Spielmodus ist nicht von Anfang an freigeschaltet und richtet sich an erfahrenere Spieler; er bringt Abwechslung in das Spielgeschehen, vor allem weil der Spieler hier in einer deutlich gefährlicheren Umgebung startet als im normalen Modus („Survivor“). Zudem zeigt diese Spielvariante eine Seite von Rain World, die sich andernfalls erst bei längerem Spielen offenbaren würde.
Welche der drei Katzenschnecken ich auch wählte, ob rot, gelb oder weiß, nach einer Weile konnte ich mich in die besondere Stimmung dieses Sidescrollers vertiefen. Das Spiel spiegelte mir ein phantastisches Ökosystem vor, in dem meine Spielfigur nicht das größte, aber auch nicht das kleinste Raubtier war. Wenn ich die mir gestellten Probleme lösen wollte, war meine Kombinationsgabe gefragt: Fressfeinden ausweichen, Nahrungsquellen auftun und in neue Areale vordringen. Sehr bald fühlte ich mich als Teil dieser fremdartigen Welt und mein Denken war ganz auf das tägliche Überleben ausgerichtet. In solchen Momenten erlebte ich das „Backtracking“ als einen Vorteil, als Erfahrungswert nämlich; ich hatte mein Revier als Katzenschnecke abgesteckt und wusste, wo Futter zu finden oder eine Gefahr zu umgehen war – bis ich dann weiterzog, um Neues zu entdecken. Trotz manch frustrierender Phase nimmt Rain World daher einen besonderen Platz in meinen Spielerlebnissen ein, insbesondere wegen seiner erstaunlichen Spielwelt samt der bizarren Flora und Fauna darin, die meine Neugier von Anfang an kitzelte und sie noch immer wachhält.
Trailer zu Rain World
Infokasten
„Rain World“
Entwickler: Video Cult
Publisher: Adult Swim Games
Plattformen: PlayStation, Windows PC
USA | 2017
André Vollmer
Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.