„Little Nightmares“ ist eine virtuelle Groteske übers Kleinsein
- geschrieben von André Vollmer
- Publiziert in Games
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In Little Nightmares schlüpft der Spieler in den Winzling Six, der durch eine schaurig überdimensionierte Welt voll grotesker Wesen schleicht und hüpft.
Rezension
Little Nightmares ist eine Kurzgeschichte, kein Roman. In fünf Kapiteln mit einer Spielzeit von etwa fünf Stunden erzählt das Horrorgame aus Schweden die Flucht eines weiblichen Winzlings in gelber Kapuzenregenjacke. Die passt beinahe in eine Hand, so winzig ist die Spielfigur, die Six heißt. Was man aber nicht aus dem Game selbst erfährt. Hier wird nicht gesprochen, stattdessen geschoben, geklettert und geschlichen. Oft hilft es auch, sich einfach zu verstecken und abzuwarten.
Zusammen mit Six im metallenen Bauch eines Schiffs aufgewacht, muss der Spieler von Raum zu Raum Rätsel lösen und Hindernisse kletternd oder springend überwinden. Immer wieder gilt es, groteske Karikaturen menschlicher Eigenschaften zu umschleichen, deren Beine so kurz sind, das sie nur trippeln können, aber Arme haben so lang und wendig, dass die Hände und Finger daran Six bis hinauf in Bücherregale verfolgen. Viele Rätsel in Little Nightmares spielen damit, dass Six viel zu klein für ihre Umgebung ist: wie also eine Türklinke herunterdrücken, die zu hoch hängt, oder an einen Schlüssel auf dem Nachttisch gelangen? Daneben im Bett schnarcht übrigens ein Ungetüm, das man besser nicht wecken will. Aber Six ist nicht die einzige, die gejagt wird. In dem ganzen Chaos huschen noch gräuliche Zwerge umher, die mit ihren Mützen wie Pilze aussehen. Deren Verstecke kann Six ausfindig machen, wenn sie weiß wie, und die Gräulinge – ja, wirklich – knuddeln.
Von Raum zu Raum und Kapitel zu Kapitel erschließt sich dem Spieler so eine zusammenhängende Welt. Allein über die gezeigte Umgebung, den Figuren darin und deren Reaktion auf Six wird eine Geschichte erzählt. Durch diesen narrativ begründeten Aufbau der Spielwelt wirkt der Schrecken nicht beliebig, sondern steigert sich mit jedem Spielabschnitt, der Six näher an das Zentrum des Grauens bringt. Bei Little Nightmares ist neben dem Rätseln und Schleichen auch das Erforschen und Erleben dieser Welt Teil der Spielerfahrung. Die düstere Stimmung des Spiels entsteht nicht allein durch die dunklen Schächte und Kammern, die Six nur durch ein Feuerzeug erhellen kann. Hierzu trägt vor allem auch das Groteske bei, das in Little Nightmares allgegenwärtig ist: eine starke Überzeichnung der Figuren und der Spielumgebung bis ins Grässliche und teils subtil Ekelhafte. Die Inszenierung grenzt ans Komische, ohne es je zu erreichen. Dafür ist die Spielwelt zu bedrohlich. Sogar in der scheinbar hilflosen Spielfigur Six, die ein dunkles Geheimnis birgt, spiegelt sich das Grässliche. Sollte es dem Game derart gelingen, das Unheimliche auf den Spieler zu übertragen, weil sein Avatar nicht unschuldig ist und er eine emotionale Bindung zu diesem aufgebaut hat, dann ist Little Nightmares auch in dieser Hinsicht gelungener Horror. Hier findet sich eine direkte Verbindung zu dem Sidescroller Inside, der den Spieler ebenfalls nicht vom Grauen unberührt lässt.
Überhaupt muss sich Little Nightmares den Vergleich mit den Spielen Limbo (2010) und Inside (2016) von dem dänischen Entwicklerteam Playdead gefallen lassen, die in ihrer Machart direkte Vorläufer zu sein scheinen, obwohl es viele deutliche Unterschiede gibt. Auch sie erzählen mit minimaler Inszenierung und allein durch den Weltenaufbau eine schreckensbesetzte Geschichte – statt mit dem gegebenen Gameplay einfach nur ein Jump’n‘ Run zu bauen. Das wäre spaßig gewesen, aber hätte niemanden vom Hocker gehauen. Erst die Verbindung aus Gameplay und guter Narration machen alle drei Spiele aus Skandinavien zu einem großartigen Erlebnis.
Im direkten Vergleich sind die Spielmechaniken und ästhetischen Ansätze, wie gesagt, doch sehr verschieden. Zum Beispiel ist das Fliehen in Little Nightmares viel zentraler als in den Playdead-Titeln und wird durch die Möglichkeit ergänzt, schleichen und sich verstecken zu können. In Limbo und Inside steht hingegen die Überwindung der Hindernisse und Rätsel stärker im Fokus. Hin und wieder muss die Spielfigur auch hier ihre Füße in die Hand nehmen und fliehen.
In ästhetischen Aspekten hat Little Nightmares aber die Nase vorn. Der Look erinnert an ein überdimensioniertes Puppenhaus, das schaurig anzusehen, aber doch so verführerisch ist, dass man es erforschen will. Darin begegnen dem Spieler missgestaltete und absonderliche Figuren, deren Bewegungen selbst puppenhaft und hölzern wirken. Anders als Inside verfügt das Game nicht nur optisch über räumliche Tiefe, sondern macht sie auch frei begehbar und passt sie, je nachdem, wo man sich befindet, durch eine schicke Regulation der Tiefenschärfe an. Während Little Nightmares zwar düster, aber dennoch vielfarbig ist, wurde Limbo gänzlich in Schattierungen von Schwarz und Grau gestaltet. Inside liegt ein wenig dazwischen mit einem schlichten, aber effizienten comichaften Stil.
Kleiner Wermutstropfen: Die Steuerung von Little Nightmares auf der Xbox One ist ein wenig hakelig geraten und führt nicht selten ein jähes Ende der Spielfigur herbei. Auch springt Six im dreidimensionalen Raum gern mal an einer Plattform vorbei, weil nur schwer zu erkennen ist, ob man sich auf einer Ebene mit dieser befindet. Das hat Frustpotenzial, wird aber letztlich durch die grandiose Spielwelt aufgefangen. Daneben hat das Spiel noch einige flackernde Grafikfehler – aber das sind nur Details. Dagegen wirklich schade ist, dass die Figuren nicht so intelligent sind, wie man es aus anderen Schleichspielen gewohnt ist. Derart lassen sie sich leicht austricksen. Hier hätte die eine oder andere überraschende Reaktion das Grauen intensivieren können. Aber meist ist Six schon sicher, wenn sie sich unter Bänken oder Tischen versteckt, wo manche Figuren auch hinlangen, aber nicht immer.
Little Nightmares ist ein atmosphärischer, wunderschön animierter Sidescroller zum Rätseln, Schleichen und Gruseln in einer schaurig überzeichneten Welt, die uns die Entwickler der Tarsier Studios geschickt und in gutem Tempo erzählen. In unserer Rubrik „Angespielt“ haben wir uns die ersten 20 Minuten des Spiels angeschaut und in einem Videoclip für unsere Leser festgehalten.
Trailer zu Little Nightmares
Infokasten
„Little Nightmares“
Entwickler: Tarsier Studios
Herausgeber: Namco Bandai Games
Plattformen: Xbox One (Im Test), PlayStation 4, Windows PC
Schweden | 2017
Veröffentlichung: 28.04.2017 (digital und als Datenträger)
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André Vollmer
Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.