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Romane

„Backup“ von Cory Doctorow

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Die Menschen der Bitchun-Society kennen weder Tod noch Krankheit, weder Energieknappheit noch Geldmangel. Cory Doctorow schildert eine utopische Dystopie.

Julius ist tot. Nur das ist nicht das Problem, nicht in der Bitchun-Society, in der jeder seinen Geist in einer Datenbank abspeichern und im Todesfall in einen schnellwachsenden Klon kopieren kann. Problematisch ist eher: Wer war so dreist, Julius in aller Öffentlichkeit über den Haufen zu schießen? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass die Backup-Technologie den nun schon 100-jährigen, nichtsdestoweniger quickfidelen Julius das Leben rettete. Ihr ist es zu verdanken, dass er schließlich alt genug wurde, um zwei Symphonien zu komponieren, ein Chemie-Studium mitsamt Dissertation zu vollenden und außerdem eine Ehe mit einer Verrückten zu überstehen, die er im Weltraum beim Schwerelos-und-Nackt-Instrumente-Spielen kennengelernt hatte. Als Julius das erste Mal mit 16 Jahren das Zeitliche segnete, war daran ein Tauchunfall Schuld. Das zweite Mal erlitt er als 70-Jähriger eine Herzattacke. Jetzt arbeitet Julius in Disney World als Animatroniker.

Die Menschen der Bitchun-Society kennen weder Tod noch Krankheit, weder Energieknappheit noch Geldmangel. Von allen Ressourcen, die man sich vorstellen kann, gibt es mehr als genug. Und trotzdem finden sich noch Schattenseiten. Cory Doctorows Debütroman Backup (im Original Down and Out in the Magic Kingdom, 2003) dreht sich genau darum: Irgendwer plant eine Intrige im selbstorganisierten Disney World und hielt es für zielführend, Julius dafür auszuknipsen.

In Doctorows Zukunftsvision ist jeder Mensch vernetzt, kann direkt in seinem Bewusstsein Dokumente empfangen und mit reiner Gedankenkraft ins Netz wechseln, um die gerade erforderlichen Infos abzurufen. Über dieses immer aktive Netzwerk werden auch alle erdenklichen Eindrücke geteilt, sodass sich schnell verbreitet, wenn jemand Mist gebaut hat. Da alles jederzeit in dieser Welt verfügbar ist, ist Geld im herkömmlichen Sinne überflüssig geworden. Die neue Währung dagegen ist der persönliche Beliebtheitsgrad, geregelt in sogenannten Woppel.

Die Attraktionen im magischen Königreich nun warten und verwalten spontane Projekt- und Zweckgemeinschaften, sogenannte Ad-hocs, die sich über das allgegenwärtige Internet organisieren und nur solange nicht von anderen verdrängt werden, wie sie ihre Sache gut machen. Will also ein Ad-hoc am Ball bleiben, muss es dafür sorgen, dass die Woppel-Werte seiner Mitglieder nicht absinken. Und das geschieht schnell, wenn die Mehrheit denkt (und diese Ansicht im Netz teilt), dass ein Projekt nicht rund läuft. Könnte es also sein, dass ein Konkurrent es auf Julius Reputation abgesehen hat? Immerhin ist er für die Attraktionen des etwas in die Jahre gekommenen Liberty Squares zuständig: die Halle der Präsidenten, der Flussdampfer Liberty Belle und das legendäre Spukhaus. Während andere Attraktionen stetig aktualisiert werden, wollen Julius und seine Freundin Lil den alten Flair der Animatronik bewahren, also ganz auf neumodischen Kram wie Virtual Reality und künstliche Erinnerung verzichten.

Das kommt auch gut an. Julius aber hat der Mordanschlag ziemlich zugesetzt. Er beginnt nachzuforschen, wer dahinter stecken könnte. Es lässt ihm einfach keine Ruhe, bis er es mit den Verdächtigungen übertreibt und seine Woppel-Werte ins Schlingern geraten. Liegt das an ihm? Oder ist vielleicht irgendetwas mit seinem neuen Körper nicht in Ordnung?

Der Roman Backup gefiel mir in seinen Schilderungen einer Gesellschaft, die ganz anders funktioniert als unsere und trotzdem glaubhaft bleibt. Es sind nicht die Charaktere, die Intrige oder die Sprache der Romanübersetzung, die besonders mitreißen. Es sind diese inspirierenden Momente der Erzählung, in denen ich dachte: So könnte der Mensch leben, wenn er von jeglicher Not befreit ist: glücklich, den Rausch des Seins genießend, frei entscheidend, was wichtig für ihn ist, fernab jeglicher Zeitnot oder existenzieller Zwänge, zugleich für mich als Leser befremdlich, weil alles unendlich ist, nichts endgültig, Mitmenschen austauschbar, das Schicksal und sogar die Erinnerung formbar, letztlich alles selbstbezogen wird und seine Ernsthaftigkeit verliert. Backup ist keineswegs düsterer Cyberpunk, der die Veränderung von Mensch und Gesellschaft durch Technologie anprangert, sondern eine leichtfüßige Episode aus dem Leben eines Ich-Erzählers, der seinen Weg finden muss, selbst nach 100 Jahren noch.

Cory Doctorow ist schon länger als Autor aktiv und hat bereits einige Romane mit netzrelevanten Themen geschrieben, so etwa den Roman Little Brothers, der sich mit digitaler Massenüberwachung, deren Konsequenzen und entsprechenden Kontermaßnahmen beschäftigt. Da Doctorow selbst das Teilen im Netz liebt und sich nach eigener Aussage darüber im Klaren ist, dass man niemanden im 21. Jahrhundert zwingen könne, ein E-Book schon vor dem Lesen zu bezahlen, finden sich seine Texte in digitaler Form frei zugänglich auf seiner Webseite craphound.com.

Letzte Änderung amFreitag, 18 August 2017 18:22
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

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„Unbestreitbar führt das Internet auch zu positiven Veränderungen. Das Negative besteht meiner Meinung nach darin, dass das Internet zu Oberflächlichkeit verleitet, zu spontanen Reaktionen, hinter denen kein langes Nachdenken steckt: Ich habe etwas gelesen, und sofort twittere ich dagegen oder darüber, und dann womöglich auch noch in falscher Grammatik.“

 

Helmut Schmidt im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo (2012) im Zeit Magazin Nr. 17 vom 19.04.2012, S. 57

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