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Lyrik

Sci-Fi-Lyrik aus Norwegen: „Solaris korrigert“

Buchcover (Ausschnitt) Gyldendal Buchcover (Ausschnitt)

Das Neuartige an dem Band Solaris korrigert ist das titelgebende Langgedicht, das in der künstlichen Mischsprache einer fiktiven Zukunft Gesellschaftseindrücke schildert: Science-Fiction in gekonnt lyrischer Gestaltung.

Der Gedichtband Solaris korrigert des Norwegers Øyvind Rimbereid ist für mich eine besondere Entdeckung in meinem Skandavistik-Studium, vor allem weil dieser Text bisher nicht vollständig ins Deutsche übersetzt wurde und damit dem Kunstdiskurs hierzulande weitgehend vorenthalten bleibt. Für die skandinavische Literaturgeschichte dagegen ist die 2004 erschienene Sammlung lange schon ein Meilenstein. Denn Solaris korrigert ist sicher die einflussreichste und am meisten interpretierte Publikation in der nordischen Lyrik des vergangenen Jahrzehnts. Das Neuartige an dem Band ist das titelgebende Langgedicht, das in der künstlichen Mischsprache einer fiktiven Zukunft Gesellschaftseindrücke schildert: Science-Fiction in gekonnt lyrischer Gestaltung.

Das epische Langgedicht Solaris korrigert – der Hauptteil des gleichnamigen Lyrikbandes, in den es konzeptionell eingebunden ist – wurde mit einer Sprache gedichtet, die nie zuvor ein Mensch gehört oder gelesen hat. Es sind der Wortschatz und Satzbau eines zukünftigen namenlosen Ichs, eine futuristische Sprache durch fiktiven Sprachwandel von uns getrennt. Es ist eine fremde, neuartige Form, in die das Sprechen des lyrischen Ichs fließt; und das ist nicht allein metaphorisch gesprochen, um Rimbereids sprachliches Kunststück zu würdigen, sondern in erster Linie wörtlich gemeint: Im fernen 2480 spricht das Arbeiter-Ich aus der Gemeinschaft organic 14.6 ein auf den ersten Blick befremdliches Norwegisch, eine Kunstsprache zusammengewürfelt aus der Stavanger Lokalvarietät – das ist Rimbereids Heimatdialekt – sowie aus dem Altnordischen, Dänischen, Deutschen und besonders aus dem Englischen. Das Ganze ist versetzt mit einigen wenigen lateinischen Einsprengseln, die in der Gesamtkomposition germanischen Sprachmaterials isoliert wirken und mit ihrer starken Endung auf O wie frisch importierte Fremdworte anmuten (ideo, imago). Auf allen Ebenen der Sprache weiß Rimbereid bekannte Muster zu etwas Neuem zu verschränken: orthographisch, syntaktisch, lexikalisch, morphologisch. Lässt sich der Leser auf diese Zukunftssprache ein und versteht nach einigen Versen des Staunens ihr Prinzip, dann kann er in die Erzählungen und Gedanken des fremden Zukunfts-Ichs eintauchen. Und gerade weil dieses Ich aus einer anderen Zeit zu uns spricht und die Essenz des Lyrischen die Ästhetik der Sprache ist, ist der Einfall einer Zukunftssprache so genial. Noch bevor ein technischer oder kultureller Fortschritt mithilfe der Wortbedeutungen inszeniert werden kann, sodass die Verschiedenheit zwischen unserer Zeit und der fiktiven zukünftigen greifbar wird, tritt dieser Effekt schon durch die Sprachzeichen an sich ein. Das anfangs Befremdliche einer rätselhaften Sprache, wohl als bewusste Irritation des Lesers geplant, wird von Vers zu Vers zur Faszination für die adäquate Überführung eines Genres in die Lyrik, das eigentlich vom Erzählerischen eines Romans lebt. Aus Science-Fiction, mit den Mitteln der Sprache erzählt, wird Science-Fiction in Gestalt von Sprache selbst.

Die künftige Welt in Eindrücken gemalt

Ganz ohne Handlungsbogen ist diese lyrische Zukunftsreise nicht, auch wenn dieser durch seine Knappheit fragmentarisch wirkt – wie ein Ausschnitt aus einer sonst unbekannten Welt, ein unvollständiges Portrait gemalt in Eindrücken, die das Ich mit uns teilt: Es lebt an der Westküste Norwegens, wo es viele russische und asiatische Touristen gibt, die eine noch reale Welt erleben wollen. Sein 30-minütiger Arbeitstag: Nanoroboter steuern und sie unterseeische Rohre reparieren lassen. Das Ich berichtet Fremdartiges von Driftern und Schatten, Wesen und Menschen von morgen. Das trägt sich so fort, bis das Ich eines Tages erfährt, dass es in die Unterseestadt Solaris versetzt wird, die es immerzu Seifa Botton nennt (in einer Teilübersetzung passend mit Gesicherter Ground übersetzt, mehr dazu unten). Kurz darauf wird ein Gespräch mit der Leiterin von 14.6, Miss Chan, durch einen seltsamen Vorfall verhindertg. Das Ich vermutet, es gebe vielleicht gar keine Frau mit dem Namen Chan. Hinter diesem Konstrukt einer Frau, der er niemals persönlich begegnet ist, verberge sich vielleicht nur ein Konzern, der die Geschicke in 14.6 lenkt. Bis zur Fahrt in die Meerestiefe werden viele solche Episoden angerissen und Geheimnisse angedeutet, die sich vielleicht durch intensive Lektüre lüften lassen, vielleicht der Leserfantasie überlassen bleiben müssen, weil sie Fragen sind, auf die es gar keine konkreten Antworten geben soll. Die lyrische Welt wird scheinbar nicht romanhaft ausstaffiert, sie bleibt in Bruchstücken zurück und wird selbst zum Geheimnis.

Gedankenspiel: Das Problem Erkenntnis | Problematisierung der Science-Fiction

Durchwirkt wird die Erzählstruktur passagenweise mit Gedankenlyrik, die die inneren Prozesse des Ichs aufscheinen lassen. Neben klassischen Fragen der Science-Fiction, was etwa das Wesen des Menschen ist, worin er sich von Maschinen unterscheidet oder ob Roboter träumen können, wird die generelle Möglichkeit von Erkenntnis problematisiert und mit ihr die Science-Fiction selbst. Schon zu Beginn von Solaris korrigert fragt das Ich aus der Zukunft ein Du aus dem Hier und Jetzt, was es werden würde, wenn das jetzige Ich in seine Welt gekrochen käme. Es scheint das Dichter-Ich zu sein, mit dem es redet, zumindest ein Ich, dessen Reflektion es ist, eine Projektion in die Zukunft. Das macht Sinn, weil das lyrische Ich ja wirklich eine Erfindung des Dichters Rimbereid ist und keineswegs mit ihm identisch sein muss, wie es eine naive Lesart von Lyrik von vornherein annehmen würde. Es könnte in diesem Fall allerhöchstens eine Projektion seiner Selbst in eine Welt von morgen sein, wie der Dichter sie entwirft, vielleicht durch Fortdenken aktueller zukunftsweisender Tendenzen in Gesellschaft und Technik – oder vielleicht allein durch pure Fantasie. Das Seltsame nun ist, dass dieser Projektion eine autarke Rede gewährt wird, einen Vorwurf an das Ich aus dem Hier und Jetzt, dessen Ursprung es eigentlich ist. Das zukünftige Ich fragt, wie es auf das jetzige Ich wirken mag: Ist es Teil einer Dystopie, einer apokalyptischen Zukunftsvision oder eines paradiesischen Traumes? Es fühlt sich beschämt, wenn es diese Erwartungen nicht erfüllen kann, und kritisiert, dass das jetzige Ich mit all seinen Systemen und Vorstellungen seine Welt zu deuten versucht. Dabei scheint gerade das nicht möglich zu sein. Auf uns heute mag ein 30-Minuten-Arbeitstag paradiesisch, albern oder langweilig wirken, weil wir diese Art zu arbeiten mit der unsrigen vergleichen und dadurch zu einem Urteil gelangen. Das Ich der Zukunft wirft aber die Frage auf, ob das wirklich Erkenntnis ist oder ob gerade durch diese Praktik Erkenntnis unmöglich wird, weil das Fremde, das man zu verstehen versucht, nur im Licht des und in Abgrenzung zu dem Bekannten verstanden werden kann. Uns fällt es schwer ohne Kenntnisse über das Mittelalter den Menschen jener Zeit zu verstehen. Wie würde ein Mensch des Mittelalters unsere Zeit verstehen? Wäre er überhaupt in der Lage dazu? Solche Fragen sind es, die das Zukunfts-Ich aus Solaris korrigert stellt. Kann der Dichter seine Projektion überhaupt begreifen und einordnen? Vielleicht wäre für uns dystopische Science-Fiction, würde sie in ferner Zukunft wahr werden, für die Menschen eben dieser kommenden Zeit gar nicht dystopisch, sondern normal, schön oder etwas Drittes Anderes. Wir könnten es nicht sagen, weil wir sie nicht verstünden. Die Qualität ihrer Zeit wäre für uns nicht erkennbar, weil wir sie an uns und unserer Jetztzeit messen würden. Wir würden auf subtile Weise nur uns selbst erkennen, weil wir uns entweder nach der fiktiven utopischen Zukunft sehnen oder uns von einer dystopischen Schreckenszeichnung künftiger Zeiten abgrenzen wollen. Das zukünftige Ich scheint sich also seines Status als Projektion bewusst zu sein, reflektiert diese und problematisiert den Vorgang des Projizierens, der vom Dichter-Ich ausgeübt wird. Das Projizieren ist generell der Kern anspruchsvoller Science-Fiction und wird hier mit einem Fragezeichen versehen, das an den Leser weitergereicht wird.

Eine Teilübersetzung von Solaris korrigert bei lyrikline.org

Es gibt den Versuch einer Teilübersetzung in das Deutsche, die den Stavanger Dialekt als Niederdeutsch wiedergibt, welches dann stark mit Englisch gemischt wird, um einen ähnlichen Effekt wie im norwegischen Originaltext zu erreichen. Es stellt sich mir sofort die Frage, ob das eine adäquate Herangehensweise ist oder ob man das Dialektale nicht hätte weglassen und sich für Hochdeutsch entscheiden sollen. Die Dialekte haben in Norwegen eine ganz andere Stellung als in Deutschland, zumal hier gleich anzumerken ist, dass das Niederdeutsche linguistisch betrachtet eine eigenständige Sprache darstellt, im Alltag aber wohl eher die Rolle eines Dialekts einnimmt. So wie ich die Sache sehe, sind deutsche Dialekte und hier das Niederdeutsche in der heutigen Situation leider nicht für eine Übersetzung wie diese geeignet. Zu oft werden diese Sprachformen in einem humoristischen Kontext verwendet, zum Beispiel in niederdeutschen Komödien oder in der Comedy, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Ihnen haftet per se etwas Lustiges und Umgangssprachliches an – auch wenn das nicht gerechtfertigt sein mag. In Norwegen dagegen gibt es keine feste Ausspracheregelung wie in Deutschland. Selbst in der Schriftsprache finden sich zwei offizielle Standards. Aus diesem Grund dürfte Norwegern, die es gewohnt sind, Dialekte zu hören, die Verwendung der Stavanger Mundart nicht so sehr auffallen, wie einem Deutschen das Niederdeutsche, der daran gewöhnt ist, dass in Medien und Literatur der hochsprachliche Standard verwendet wird. Sieht man allerdings von diesem Aspekt der Übersetzung ab, kann jemand, der des Norwegischen nicht mächtig ist, zumindest einen Eindruck gewinnen, wie Rimbereids Großgedicht sprachlich funktioniert.

Das Original ist ausschnittsweise auf poetryinternational.org zu lesen – mitsamt englischer oder wahlweise niederländischer Übersetzung daneben. Die erste Strophe kann man sich sogar von Rimbereid vortragen lassen, sodass, auch wenn man kein Norwegisch versteht, zumindest den Mischklang der Kunstsprache hören kann.

Unberücksichtigt bei diesem Einblick in Solaris korrigert ließ ich den Titel, der eindeutig auf Stanisław Lems Roman Solaris verweist und auf diese Weise weitere Bedeutungsebenen in das Gedicht einwebt.

Letzte Änderung amFreitag, 18 August 2017 18:32
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

Unter anderem auch das . . .

„Unbestreitbar führt das Internet auch zu positiven Veränderungen. Das Negative besteht meiner Meinung nach darin, dass das Internet zu Oberflächlichkeit verleitet, zu spontanen Reaktionen, hinter denen kein langes Nachdenken steckt: Ich habe etwas gelesen, und sofort twittere ich dagegen oder darüber, und dann womöglich auch noch in falscher Grammatik.“

 

Helmut Schmidt im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo (2012) im Zeit Magazin Nr. 17 vom 19.04.2012, S. 57

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