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„Dave“ – Übers Heilsversprechen künstlicher Intelligenz

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Raphaela Edelbauers zweiter Roman ist ein künstlerischer Beitrag zum Diskurs über KI, ein Sprachkunstwerk sowie ein intellektueller, ungemein fesselnder Thriller.

Rezension

Die Außenwelt hat Syz nie gesehen, die Erde gilt als unbewohnbar, kollabiert unter dem Gewicht immenser Überbevölkerung. Die Welt, die der junge Programmierer dagegen kennt: eine straff organisierte Gesellschaft innerhalb eines gigantischen kastenförmigen Turms, selbstversorgend durch Kreislaufwirtschaft und hermetisch gegen das Außen abgeriegelt, darin die Menschen stockwerkweise geordnet nach ihrer Funktion, unten die Versorger, oben Programmierer wie Syz, die im Schichtsystem Code in die Computer hämmern, Millionen von SCRIPTs, die gecodet werden müssen — für DAVE, die im Entstehen begriffene künstliche Superintelligenz, situiert in der Turmmitte, im Hochsicherheitstrakt und Zentrallabor, wo nur die Professoren und Ingenieure Zugang haben, also die ganz hohen Tiere in der Techno- und Expertokratie, die das Vergeistigte schätzt und alles Körperliche schmäht. Ohne Widerworte fügt sich Syz in das strenge Gefüge, glaubt wie alle anderen, dass DAVEs unendliche Intelligenz die Lösung aller menschlichen Probleme sein wird, und codet, was das Zeug hält. Doch Syz wird partout nicht befördert. Er will schon die Segel streichen, als er des Nachts überfallartig in ein Geheimprojekt involviert wird, das den Durchbruch bringen soll. Ausgerechnet er soll darin eine Schlüsselrolle einnehmen. Doch je näher der Release von DAVE rückt, desto chaotischer werden auch die gesellschaftlichen Zustände im Turm. Überall poppen Transhumanisten auf, die ihr Bewusstsein in DAVE transferieren wollen, unter Aufgabe alles Körperlichen. Und Syz — der seinem Vorgänger nachspürt, demjenigen, der vor ihm der Schlüssel zum Durchbruch hätte sein wollen — kommen zunehmend Zweifel an der Sinnhaftigkeit DAVEs.

Die Handlung von Raphaela Edelbauers Roman folgt dem Ich-Erzähler Syz auf seiner Suche nach der wahren Bestimmung von DAVE. Auf seiner Suche gelangt er an Orte und zu Wissen, beides von einer ungeahnten Natur, die neues Licht auf die dystopische Gesellschaft wirft, in der er eine eher privilegierte Rolle einnimmt. Insofern liest sich der Roman wie ein langsam getakteter Thriller, der einen großen Knall am Ende erwarten lässt. Zugleich ist der Text ein philosophischer Entwurf, der fragt, erstens, wie das mit der künstlichen Intelligenz und künstlichem Bewusstsein eigentlich gehen kann, und zweitens, welchem politischen Zweck die Erfindung solch einer intentionslosen Superintelligenz dienen soll — der Erschaffung einer perfekten Ordnung, in der alle glücklich sind und im Einklang mit der renaturierten Ökosphäre existieren? Der transhumanistischen Optimierung oder sogar Neuschaffung des Menschen? Als Instrument zur Unterdrückung? Wie gute Science-Fiction das tut, wirft der Roman eigene Hypothesen in den Ring und konstruiert darauf aufbauend eine packende Geschichte. Immer wieder sind essayistische Ausflüge in den Handlungsverlauf montiert. Nicht nur wegen dieser gedanklichen Exkursionen des Ich-Erzählers ist Edelbauers Zweitwerk ein intellektueller Roman. Er ist es auch, weil immer wieder Ideen aus der Philosophiegeschichte eingeflochten und mit der Thematik der künstlichen Intelligenz zusammengebracht werden. Zudem beschäftigen sich sämtliche Figuren unentwegt mit Problem und Zweck künstlicher Intelligenz und diskutieren Aspekte dieser Thematik. Das wirkt nie aufgesetzt, denn die Erzählwelt ist ja so raffiniert angelegt, dass alle Figuren einem Endziel zustreben — eben der Erschaffung DAVEs. Davon abgesehen bleiben die Dialoge auch locker, weil Edelbauer es versteht, rundum runde Charaktere zu entwerfen, Figuren, die wie Menschen wirken und auch so reden, also immer wieder Alltägliches in ihre Gespräche einstreuen. Derart bereitet sich ein alles verändernder Twist am Romanende vor, den ich an dieser Stelle nur erwähne, weil ebendiese finale Wendung mindestens zwei Ausdeutungen des Romans aufwirft, die unauflösbar nebeneinanderstehen und die Geschichte damit zu einer Phantastischen im Todorov’schen Sinne machen — was nicht verwundert, ist doch Edelbauers erster Roman Das flüssige Land genuin Phantastische Kost.

Das Zentrallabor duckte sich schwarz wie die Kaaba in den zweiten Stock, ein Gebäude-im-Gebäude, auf dessen Fluchtpunkt die gesamte Architektur hinzielte. Stockwert vier – wo ich wohnte – sowie Stockwerk fünf waren zu großen Teilen in Glas ausgeführt, das heißt: Jeder Assistent, der morgens die Freemanbrücke überquerte und in den Aufzügen zum Großraumbüro fuhr – ja selbst der, der sich in den Gärten des fünften Stocks vergnügte, war über eine direkte Sichtschneise mit DAVE verbunden. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie das wohl wäre – ihn zu berühren.

Sprachlich ist der Roman gut ausgewogen zwischen flüssiger Lesbarkeit und einer Eigenwilligkeit der Sätze, die das Lesen zu mehr als reiner Informationsvermittlung macht, nämlich durchweg interessant, nicht zuletzt, weil so eine eigene, nicht austauschbare Sprache entwickelt wird, die immer wieder neugierig auf den nächsten Satz macht. Bemerkenswert sind die niemals schiefen Vergleiche aus Technik und Naturwissenschaft, die herangezogen werden, um Stimmungen und Seelenzustände zu beschreiben. Auch sprachlich nähern sich hier Seele und Technik an.

Fazit: Intellektueller Thriller über KI

Raphaela Edelbauers neuester Roman Dave ist ihr zweiter und ähnlich ambitioniert wie der vorangegangene. Er ist vieles in einem: philosophischer Entwurf, Sprachkunstwerk, künstlerischer Beitrag zum Diskurs über künstliche Intelligenz sowie ein intellektueller, ungemein packender Thriller, der nicht nur zu mehrfachem Lesen einlädt, sondern auch zum Weiterdenken — wenn diese Floskel irgendwo wieder sinnhaft wird, dann bei diesem Roman.

 

dave edelbauer klettcotta cover

 

Infokasten

„Dave“

Autorin: Raphaela Edelbauer

Verlag: Klett-Cotta

432 Seiten, Hardcover mit Umschlag

Deutschland | 2021 (Druck/Digital) 

Bildrechte: Die Bilder dieses Artikels sind Ausschnitte aus dem besprochenen Medieninhalt. Deren Rechteinhaber können Sie dieser Infobox entnehmen.

Letzte Änderung amMittwoch, 07 Juli 2021 14:47
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

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